45 Jahre sind seit dem Pogrom gegen die alevitischen Kurd:innen in Maraş (ku. Gurgum) vergangen. Zwischen dem 19. und 26. Dezember 1978 wurden offiziellen Angaben zufolge 120 Menschen von einem faschistischen Mob getötet, 559 Häuser und fast 290 Arbeitsstätten wurden niedergebrannt. Laut inoffiziellen Quellen kamen über 500 Menschen bei dem Massaker ums Leben. Während des 23 Jahre dauernden Prozesses gegen die Verantwortlichen wurden 22 Personen zum Tode, sieben Personen zu lebenslanger Haft und 321 Personen zu Haftstrafen zwischen einem Jahr und 24 Jahren verurteilt. Weitere 68 Personen, die eine wichtige Rolle bei dem Massaker spielten, waren untergetaucht. Die Urteile der Gerichte im Ausnahmezustand wurden später vom Kassationsgerichtshof aufgehoben, und die Todesurteile wurden nicht vollstreckt. Die verurteilten Angeklagten wurden freigelassen, nachdem ihre Strafen mit dem 1991 erlassenen Anti-Terror-Gesetz (TMK) aufgeschoben worden waren.
Der Vorsitzende des Pir Sultan Abdal Kulturvereins (PSAKD) in Amed (tr. Diyarbakir), Aydın Atlı, hält eine Aufarbeitung des Pogroms für unverzichtbar, um weitere Massaker zu verhindern. „Der Staat hat sich noch nie mit einem Massaker in der Gesellschaft auseinandergesetzt. Das Maraş-Massaker richtete sich gegen alevitische Kurden. Kurz danach fand der Militärputsch vom 12. September [1980] statt und wir erlebten die Zeit der faschistischen Junta. Einer der Eckpfeiler, die zum 12. September führten, war das Maraş-Pogrom. Die gleichen Massaker gehen heute weiter, weil der Staat sich nicht mit der Vergangenheit auseinandersetzt, nicht mit Çorum, Malatya, dem 1. Mai [1977 in Istanbul]. Da der Staat sich den Massakern nicht stellte, kam es zu den Massakern von Roboskî, Madımak, Ankara und Suruç [ku. Pîrsus]. Leider ist unsere Geschichte voll von Gedenkfeiern und Massakern. Solange der Staat sich diesen Morden nicht stellt, werden die Massaker in diesem Land weitergehen", erklärte Atlı gegenüber ANF.
Politik der Straffreiheit lädt zu weiteren Massakern ein
Atlı sagte weiter: „Die Politik der Straflosigkeit ermutigt die Täter von Massakern. Die wahren Täter der Massaker von Maraş und Sivas wurden nie enttarnt. Diejenigen, die verhaftet wurden, wurden in einem bestimmten Verfahren freigelassen. Denjenigen, die das Massaker begangen hatten, wurde verziehen. Diejenigen, die sich geoutet hatten, wurden als Helden begrüßt. Wenn die wahren Täter aufgedeckt worden wären, hätte es die Fortsetzung der Massaker von Maraş heute nicht gegeben."
Wir haben die Massaker an uns nicht vergessen
Für den Staat wäre es laut Atlı ein wichtiger Schritt, sich den Massakern zu stellen: „Das Dersim-Massaker von 1938 ist immer noch nicht aufgearbeitet worden. In Sivas wurde das Hotel Madımak acht Stunden lang niedergebrannt, in Maraş griff eine Woche lang niemand ein. Der ursprüngliche Plan in Maraş war ein viel größeres Massaker. Wenn sie nicht auf Widerstand gestoßen wären, hätten sie alle dort lebenden Aleviten ausgerottet, aber das konnten sie nicht tun. Es gibt einen Bericht, der dem damaligen Ministerpräsidenten Bülent Ercevit übergeben wurde, und bis heute ist dieser Bericht nicht veröffentlicht worden. Leider geben die Behörden solche Berichte aus Gründen des Staatsgeheimnisses oder aus anderen Gründen nicht an die Öffentlichkeit weiter. Wir haben die an uns begangenen Massaker nicht vergessen und werden sie nicht in Vergessenheit geraten lassen.“
Monistisches Verständnis der Ausgrenzung
Atlı wies darauf hin, dass die Massaker in der Türkei seit hundert Jahren aufgrund der monistischen Staatspolitik verübt werden: „Wenn man alle in der Türkei lebenden Menschen nach der muslimisch-sunnitischen, türkisch-islamischen Synthese bewertet, wird es zu negativen Ergebnissen kommen. Diese negativen Ergebnisse führen zu Massakern. Es gibt verschiedene Segmente und Kulturen in diesem Land. Der Staat schreibt die türkisch-islamische Synthese vor, alle sollen türkisch und sunnitisch sein. Wenn man dieser Synthese entspricht, ist man ein akzeptabler Bürger, wenn man diesem Kriterium nicht entspricht, ist man der Andere. Die derzeitige Regierung setzt diese Politik fort."
Wir wollen anerkannt und nicht definiert werden
Abschließend erklärte Atlı, dass die derzeitige Regierung die politische Ausrichtung und den Glauben der Alevitinnen und Aleviten als Bedrohung ansehe und die Assimilierung beschleunige. Atlı fügte hinzu: „Als Aleviten wollen wir anerkannt und nicht definiert werden. Die Regierung versucht immer, uns ein Hemd überzustülpen, aber wir akzeptieren dieses Hemd oder diese Definition nicht."