Kritik an Amnesty International: Desinteresse an Konfliktlösungen

Die Verbände der Studierenden aus Kurdistan YXK und JXK nehmen mit einer Presseerklärung Stellung zur Reaktion der Dortmunder Amnesty-International-Sektion nach der friedlichen Besetzung des Büros durch kurdische Aktivist*innen.

Am 5. März waren Aktivist*innen der Studierendenverbände YXK und JXK an einer Besetzung des Dortmunder Büros der Menschenrechtsorganisation Amnesty International beteiligt. Die Hintergründe und Forderungen dabei wurden von den Aktivist*innen offen dargelegt: Öffentlichkeit für den andauernden Hungerstreik von über 7.000 Menschen, aktive Unternehmungen als eine der größten anerkannten Menschenrechtsorganisationen weltweit, sowie die Äußerung von Kritik der Studierendenverbände „zum Totschweigen der faschistisch motivierten Kriegspolitik der Türkei gegen die Kurdinnen und Kurden seitens Amnesty International“.

Im Folgenden geben wir eine Stellungnahme der YXK/JXK wieder:

„In erster Linie möchten wir die Reaktion darlegen, die uns an diesem Tag entgegengebracht wurde: Ein völliges Unverständnis, aber dennoch die kooperative Geste, die Besetzung nicht in gewaltsamer Form auflösen zu lassen.

Vor Ort fanden während der Bürobesetzung zwischen allen Anwesenden Gespräche statt, in deren Verlauf uns eine Antwort seitens der Dortmunder Ortsgruppe von Amnesty International zugesichert wurde, nämlich die Auseinandersetzung mit dem Hungerstreik, der am 7. November 2018 von der kurdischen Politikerin Leyla Güven begonnen wurde. Wenige Tage darauf erhielten wir eine E-Mail mit einem sehr perfiden und ignoranten Inhalt.

In der uns zugesandten Mail wurden die Haltung und das Desinteresse über den länderübergreifenden Hungerstreik tausender Aktivist*innen schon zu Beginn klar definiert: Seitens der internationalen Menschenrechtsorganisation Amnesty International besteht kein Interesse daran, über einen historischen und möglicherweise tödlichen Gefängnisaufstand tausender Menschen zu berichten, die in der Türkei seit Jahren Folter- und Bunkerhaft sowie massiven Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind.

Die Dortmunder Sektion von Amnesty International äußerte in ihrem Schreiben zudem, in Handlung zu treten, wenn Hungerstreikende seitens der Behörden misshandelt werden, für ihren Hungerstreik bestraft werden und die medizinische Versorgung nicht gewährleistet wird - solange ihre „Kapazitäten“ dies zuließen.

Im Rahmen des vor genau 140 Tagen von Leyla Güven begonnen Hungerstreiks, der eine Welle der Solidarität und einen Aufstand auslöste, sind in der Türkei jegliche Formen skandalöser Umstände an die Öffentlichkeit gedrungen: Szenen, die brutale Prügelattacken auf Hungerstreikende zeigen, Berichte, wonach hungerstreikenden Gefangenen sogenannte Disziplinarstrafen in Form von Bunker- oder Einzelhaft auferlegt werden, sexuell motivierte Misshandlungen hungerstreikender Frauen, Festnahmen und Verhaftungen von hungerstreikenden Aktivist*innen in HDP-Büros, Vereinsstürmungen und private Hausdurchsuchungen, sowie massenhafter und willkürlicher Gewahrsam von solidarischen Menschen. Damit sind alle genannten Voraussetzungen für ein Handeln durch Amnesty International erfüllt, aber Fehlanzeige: Etliche Beschäftigte in den Reihen dieser Menschenrechtsorganisation besitzen keinerlei „Kapazitäten“, um die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei aufzugreifen. Das Schweigen geht weiter.

An dieser Stelle möchten wir auch klarstellen, dass die friedliche Besetzung nicht das Ziel verfolgte, sich die Meinung von Amnesty International zu dem Hungerstreik einzuholen. Die Besetzung diente dazu, einer internationalen Menschenrechtsorganisation große Kritik entgegenzubringen und die Forderung auszusprechen, dass sich Amnesty International zur Abwechslung auch mal den blutigen und seit Jahrzehnten anhaltenden Menschenrechtsverletzungen in der Türkei widmen sollte, damit diese in einem internationalen Rahmen aufgearbeitet werden und präventive Maßnahmen gegen die Legitimation der systematischen Unterdrückungspolitik der Türkei getroffen werden können. Diese Forderung wurde auch vor Ort geschildert.

Damit zusammenhängend äußerte die Dortmunder Ortsgruppe von Amnesty International, dass sie die Protestform des Hungerstreiks als „Form der freien Meinungsäußerung“ betrachte. Hier sei angemerkt, dass der Hungerstreik eine historische und symbolische Bedeutung besitzt und sich auch Amnesty International darüber im Klaren sein kann, dass große Missstände vorliegen müssen, damit tausende Menschen überhaupt in Kauf nehmen, in Folge ihres Protestes ihr Leben zu lassen. Der aktuelle Hungerstreik ist ein Aufruf an die Weltöffentlichkeit, zu handeln, zu berichten und Druck auf den türkischen Staat auszuüben. Und dies würde besonders gut mit der Reichweite einer international vernetzten Organisation gelingen.

Stattdessen werden bestimmte Themengebiete aus der Öffentlichkeit gehalten und Berichte über bereits präsente Themen veröffentlicht.

Und genau dies ist als ein ignorantes und auf Interessen gerichtetes Verhalten zu bewerten. Die Kapazitäten und Möglichkeiten so großer Organisationen werden nicht genutzt, um eine feste Haltung bei so klar sichtbaren Menschenrechtsverletzungen, wie sie in der Türkei vorliegen, aufzuzeigen und ein Handeln dagegen in Betracht zu ziehen. Die Selbstbeschreibung von Amnesty International, die auf ihrer Internetpräsenz zu lesen ist, wird de facto nicht umgesetzt, wenn es um die Verfolgung von Kurdinnen und Kurden in der Türkei geht.

Wir unterstreichen an dieser Stelle nochmals die Dringlichkeit unserer Forderungen:

Seit unserem Gespräch mit der Dortmunder Sektion von Amnesty International haben sich vier junge Menschen in den türkischen Gefängnissen das Leben genommen. Bei diesen politischen Gefangenen handelt es sich um Zülküf Gezen, Ayten Beçet, Zehra SağlamMedya Çınar.

Es ist Fakt, dass im Rahmen dieses vor der Öffentlichkeit verschwiegenen Hungerstreiks tausende Menschen sterben werden, wenn nicht gehandelt wird und keine der Forderungen umgesetzt werden. Und besonders diese Tatsache dürfte eine internationale Menschenrechtsorganisation nicht schweigend hinnehmen.

Derzeit werden auch in mehreren Städten Europas und auch in Deutschland Hungerstreik-Aktionen durchgeführt. Demnach wäre es auch für lokale Organisationen oder Ortsgruppen nicht besonders schwer, die Hungerstreikenden hierzulande zu besuchen und sich ein Bild von der Lage zu machen. Jedoch ist auch das nicht der Fall. Der derzeitige Hungerstreik wird als ein Akt betrachtet, der sich von bekannten europäischen Protestformen in ihrer Realität stark abhebt. Daher bleibt er offenbar insbesondere für die europäische Öffentlichkeit uninteressant.

Unbeachtet dabei bleibt aber auch der Hintergrund, nämlich, dass die menschenunwürdigen Umstände in der Türkei diesen Umfang an Protesten erzeugen.

Seit Jahrzehnten sind Minderheiten in der Türkei Massakern, Assimilierung, Verfolgung, Zwangsislamisierung, Inhaftierungen, Sexismus, Einschüchterungen, Hetze und Diskriminierung ausgesetzt. In der Türkei herrscht ein gnadenloser Krieg gegenüber nonkonformen und oppositionellen Menschen. Dieser Krieg zeigt sich täglich in blutigster Form. Die Rede ist von systematischer Tötung, Minderheitenverfolgung, Terrorförderung, dem Willen und dem Versuch, eine gesamte Ethnie auszulöschen, Massenverhaftungen, blutiger Gefängnisfolter, Unterdrückung und einer schon längst eingetretenen und verschwiegenen Diktatur.

Abdullah Öcalan verkörpert dabei für Millionen Menschen weltweit einen wichtigen Vordenker für eine demokratische und fortschrittliche Gesellschaft sowie die Schlüsselfigur für eine friedliche Lösung der Kurdenfrage. Mit der Inhaftierung Öcalans begann besonders für die Kurdinnen und Kurden in der Türkei eine blutige Kriegs-Ära, die heute ihren Höhepunkt erreicht. Mit Öcalans Verhaftung und Isolation beabsichtigten die internationalen Bündnisse eine Niederschlagung der kurdischen Freiheitsbewegung und ihrer Ideen.

In Folge dieser legitimierten und antikurdischen Eskalationspolitik wurden bis heute Hunderttausende Menschen in der Türkei inhaftiert, Tausende massakriert und ein ganzes Land in einen blutigen Kriegsalltag getrieben.

Und hier geben die Forderungen von Tausenden Hungerstreikenden zu verstehen:

Mit der Freilassung von Abdullah Öcalan wäre der wichtigste Schritt für die Freilassung von über Hunderttausenden politischen Gefangenen in der Türkei getan, denn dem Großteil der politischen Gefangenen in der Türkei wird zur Last gelegt, die Ideen Abdullah Öcalans zu praktizieren.

An dieser Stelle richten wir abschließend unsere Worte nochmals an Amnesty International: 

Von einer Menschenrechtsorganisation wäre spätestens nach den mehrfachen und persönlichen Konfrontationen zu erwarten gewesen, dass der Wille entsteht, die derzeitige und missliche Lage von Millionen Menschen im Nahen und Mittleren Osten zu thematisieren und aktive Öffentlichkeitsarbeit über die von dem AKP-Regime legitimierte Kriegspolitik in der Türkei zu betreiben. Doch auch die Türen von Amnesty International verschließen sich vor dem menschenunwürdigen Foltersystem in der Türkei. Damit wird nochmals das Desinteresse an einer friedlichen Lösung der Konflikte im gesamten Nahen und Mittleren Osten kundgetan.“


„Sehr geehrte Damen und Herren,

Sie waren in der vergangenen Woche in unserem Dortmunder Büro. Zunächst möchten wir Sie darauf hinweisen, dass sich Amnesty International als unabhängige Menschenrechtsorganisation in keiner Weise von Bürobesetzungen oder anderen Druckmitteln in ihrer Arbeit beeinflussen lässt. Selbstverständlich aber antworten wir Ihnen gerne auf Ihre Anliegen, so wie wir es auch gegenüber allen anderen Menschen tun, die sich an uns wenden: Amnesty spricht sich weder für noch gegen Hungerstreiks aus.

Daher äußern wir uns auch nicht zum Hungerstreik von Leyla Güven und ihrer Unterstützerinnen und Unterstützer. Wir betrachten das Mittel des Hungerstreiks als Form der freien Meinungsäußerung.

Im Fall von Gefangenen, die in Hungerstreik treten, müssen die Behörden die notwendige medizinische Versorgung gewährleisten und sie dürfen die Streikenden weder misshandeln noch für ihren Hungerstreik bestrafen. Nur wenn der Staat diese Pflichten verletzt, würde Amnesty International die Fälle aufgreifen, soweit unsere Kapazitäten dies zulassen.

In der Vergangenheit haben wir uns wiederholt grundsätzlich gegen die Verhängung von verschärfter Einzelhaft und gegen die Isolation von Gefangenen gewandt, da dies eine Form grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Bestrafung darstellt und bei Monate oder Jahre anhaltender Isolation sogar Folter gleichkommen kann.

Momentan werden in der Türkei zahlreiche Menschen Opfer dieser Menschenrechtsverletzungen. Wir werden daher weiterhin für eine Ende dieser Form von Bestrafung eintreten. Weitere Informationen zu unserer Arbeit zur Türkei finden Sie auf unserer internationalen Website https://amnesty.org. Mit freundlichen Grüßen Amnesty International Deutschland e.V.“