Kommentar: Zuckerbrot ohne Peitsche

„Die Kurden wissen, dass sie von der EU nicht nur nichts zu erwarten haben, sondern dass sie auch noch Öl ins Feuer gießt", schreibt Agir Amanos in einem Kommentar zum Besuch von Ursula von der Leyen und Charles Michel in der Türkei.

Wie ist der Türkei-Besuch von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel in der aktuellen Phase zu bewerten? Susanne Güsten schrieb bereits im Vorfeld im Tagesspiegel, dass die EU-Spitzen ihre Reise absagen sollten. Denn würden sie „mitten in einer neuen Eskalation der Repression ihre Aufwartung machen”, zeigten sie, „dass Rechtsstaat und Menschenrechte für Europa nicht mehr zählen”. In der taz ist von Jürgen Gottschlich zu lesen, „die EU interessiert sich nicht mehr für Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat in der Türkei“, anders sei der Besuch nicht zu erklären.

Güsten und Gottschlich echauffieren sich über hinlänglich bekannte Wahrheiten. Die Erkenntnis kommt zwar spät, dennoch erfreut es, dass sie zumindest jetzt erkannt wurden. Begriffe wie „Menschenrechte“, „Demokratie“ und „Rechtsstaatlichkeit“ waren lange Zeit eine nützliche Maskerade für eine skrupellose Politik. Hätte man doch schon früher auf die Kurden gehört!

Kurdinnen und Kurden wissen, dass sie von der EU nicht nur nichts zu erwarten haben, sondern dass sie auch noch Öl ins Feuer gießt, in dem sie aktiv darauf hinwirkt, die Unterdrückung zu verstetigen und die kurdische Frage ungelöst zu lassen.

Spätestens seit der Verschleppung des kurdischen Repräsentanten und PKK-Gründers Abdullah Öcalan hat sich der letzte Hauch einer Hoffnung an die EU in Luft aufgelöst. 1998 brach Öcalan in Anbetracht eines drohenden Krieges im Mittleren Osten in Syrien Richtung Europa auf, um Partner für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage zu finden und den Krieg abzuwenden. Die EU, allen voran Deutschland, Frankreich, die Niederlande und Griechenland, versperrten sich diesem Anliegen und antworteten mit ihrer Mittäterschaft bei der Verschleppung und Auslieferung Öcalans an die Türkei.

Aber damit nicht genug. In allen Kriegen, die die Türkei gegen Kurden führte, seien es die völkerrechtswidrigen Angriffe auf Rojava 2018 und 2019 oder der seit bereits 40 Jahren währende Krieg gegen die kurdische Freiheitsbewegung, haben europäische Staaten eine todbringende Rolle gespielt. Es gehört mittlerweile zur Routine, dass hochrangige Vertreter des türkischen Staates im Vorfeld von Kriegshandlungen nach Deutschland und in die EU reisen, um politische und militärische Unterstützung zu erhalten. Zuletzt vor dem Militäreinsatz der Türkei gegen das in Südkurdistan gelegene Guerillagebiet Gare.

Die deutsche Öffentlichkeit scheint den Kurdinnen und Kurden nicht zugehört zu haben. Woher sonst kommt das Erstaunen darüber, dass zwei der höchsten Vertreter*innen der EU inmitten einer so düsteren Phase in der Türkei reisen? In einer Zeit, in der der Faschismus um sich gegriffen hat und alle oppositionellen Kräfte vom Staat mundtot gemacht werden.

Gewiss, es hat sich einiges geändert in der Beziehung der beiden. Die Türkei versucht sich nicht mehr als demokratiewilliges Land zu präsentieren. Und die EU erachtet es nicht mehr notwendig, die Maskerade aufrecht zu erhalten und zu simulieren, als würden Menschenrechte ihr ein Anliegen sein. Die Frage ist, warum handelt die EU so?

Die klerikal-faschistische Koalition aus AKP und MHP befindet sich in einer tiefen Krise. Erdoğan versucht sich mit allen Mittel und immer neuen und absurderen Handlungen über Wasser zu halten. Die Wirtschaft steckt in einer tiefen Rezession. Das Militär hat eine historische Niederlage in Gare einfahren müssen. Laut Umfragen verliert die AKP zusehends an Zuspruch.Ursula von der Leyen ist bemüht, positive Aspekte zu benennen. Das einzige, was ihr bleibt, sind die von der Türkei aufgenommenen Flüchtlinge. Um die Gemüter in der Türkei zu beruhigen, verspricht sie Milliarden. Milliarden als Wahlkampfhilfe, um Erdogans Regime zu stabilisieren.