„Erdoğans neue Türkei ist ein zunehmend autokratisches Land“

Abgeordnete verschiedener Fraktionen des Europaparlaments fordern von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel, bei ihrem Türkei-Besuch Demokratie-Defizite zu thematisieren.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel besuchen heute die Türkei. Abgeordnete verschiedener Fraktionen des Europäischen Parlaments fordern, dass bei den Gesprächen mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan das antidemokratische Verhalten der türkischen Regierung thematisiert wird. In einem Brief an die EU-Führung werden das Verbotsverfahren gegen die HDP, der Austritt aus der Istanbul-Konvention und der Eingriff in die universitäre Autonomie als Beispiele genannt, die bei dem bilateralen Treffen berücksichtigt werden müssen.

„Wir, die unterzeichnenden Mitglieder des Europäischen Parlaments, wenden uns an Sie anlässlich Ihres für den 6. April geplanten Treffens mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Insbesondere möchten wir unsere große Besorgnis über die vielfältigen strukturellen und politischen Probleme des Erdoğan-Regimes zum Ausdruck bringen und vertrauen darauf, dass diese bei Ihrem Gespräch ernsthaft berücksichtigt werden“, schreiben die Abgeordneten:

„Erdoğans neue Türkei ist ein zunehmend autokratisches Land, das wir nur schwer als legitimen Partner anerkennen können. Die ständigen Menschenrechtsverletzungen in Afrin seit 2018, bei denen die Menschenrechtsorganisation Afrin 303 Kinder und 213 Frauen zählte, die bei den Angriffen der mit der Türkei verbündeten bewaffneten Gruppen verletzt wurden, sind nur ein Beispiel für den antidemokratischen Kurs, den die Regierung über die Jahre eingeschlagen hat.“

Demokratische Defizite“

In dem Schreiben werden drei Hauptprobleme benannt: „Das erste bezieht sich auf die immer deutlicher werdenden demokratischen Defizite, die zu einer alarmierenden Kontrolle über das Parlament und die Opposition führen. Am 17. März leitete der Generalstaatsanwalt des Kassationsgerichtshofs ein Schließungsverfahren gegen die Demokratische Partei der Völker (HDP) ein, indem er den Fall an das Verfassungsgericht verwies.
Am selben Tag wurde das Mandat des HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu aufgehoben und damit auch seine Immunität. Die rechtliche Grundlage für Gergerlioğlus Anklage wegen ,terroristischer Propaganda' ist ein Tweet aus dem Jahr 2016, in dem er die Entscheidung eines Richters als politisch motiviert bezeichnete. Im Moment gibt es Zehntausende von politischen Gefangenen, und unter ihnen viertausend HDP-Mitglieder einschließlich Abgeordnete, Bürgermeister und Vorstandsmitglieder.“

Förderung einer türkisch-islamisch-konservativen Weltsicht an Universitäten

„Ein zweiter grundlegender Grund zur Sorge ist die Universität und ihre Unabhängigkeit. Seit 2018 entscheidet Recep Tayyip Erdoğan allein über alle hochrangigen Ernennungen an den Universitäten. Die Bosporus-Universität (Bogazici), eine der führenden Institutionen der Türkei, wählt ihre Dekane normalerweise aus den eigenen Reihen. Doch Anfang Januar 2021 ernannte Erdoğan den AKP-nahen Melih Bulu zum neuen Dekan der Universität, als seinen eigenen ,Treuhänder'. Proteste gegen Melih Bulu wurden gewaltsam unterdrückt, über 500 Studenten wurden festgenommen, wobei es keine offiziellen Zahlen darüber gibt, wie viele von ihnen anschließend inhaftiert wurden. Die Universitäten verlieren ihre universelle Perspektive und werden zu einem Ort der Förderung einer türkisch-islamisch-konservativen Weltsicht.“

Die neue Türkei: Patriarchalisch und homophob

„Schließlich müssen wir betonen, dass die neue Türkei nicht nur Kurden, Armeniern, Nicht-Muslimen, Andersdenkenden, Frauen und der Demokratie selbst gegenüber feindlich eingestellt ist: Sie ist auch eine patriarchalische und homophobe Gesellschaft, die dem ehemaligen laizistisch-türkischen Nationalismus inhärent feindlich gesinnt ist. Frauen und Frauenorganisationen, die sich für Gleichberechtigung einsetzen, wurden systematisch kriminalisiert und inhaftiert. Der Rückzug der Türkei aus der sogenannten Istanbul-Konvention, die Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt durch verbindliche Rechtsnormen verhindern soll, ist sowohl für Frauen als auch für die LGBTQI+-Gemeinschaft besorgniserregend, da er von Erdoğan unter dem Vorwand verkündet wurde, dass er ,zur Normalisierung der Homosexualität' verwendet werde.“

Unterzeichnende

Abschließend heißt es in dem Schreiben: „Wir hoffen, dass diese Themen bei Ihrem Treffen mit Präsident Erdoğan berücksichtigt und angesprochen werden.“ Der Brief an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel wurde von folgenden Abgeordneten unterzeichnet:

Massimiliano SMERIGLIO (MEP, S&D), AttilaARA-KOVÁCS (MEP, S&D), Maria ARENA (MEP, S&D), Kostas ARVANITIS (MEP, GUE/NGL), Pernando BARRENA ARZA (MEP, GUE/NGL), Pietro BARTOLO (MEP, S&D), Brando BENIFEI (MEP, S&D), Fabio Massimo CASTALDO (MEP, NA), Andrea COZZOLINO (MEP, S&D), Rosa D’AMATO (MEP, Greens/EFA)Özlem DEMIREL (MEP, GUE/NGL), Eleonora EVI (MEP, Greens/EFA), Giuseppe FERRANDINO (MEP, S&D), Alexis GEORGOULIS (MEP, GUE/NGL), Elisabetta GUALMINI (MEP, S&D), Evin INCIR (MEP, S&D), Eva KAILI (MEP, S&D), Pierfrancesco MAJORINO (MEP, S&D), Margarida MARQUES (MEP, S&D), Costas MAVRIDES (MEP, S&D), Martina MICHELS (MEP, GUE/NGL), Alessandra MORETTI (MEP, S&D), Demetris PAPADAKIS (MEP, S&D), Dimitrios PAPADIMOULIS (MEP, GUE/NGL), Giuliano PISAPIA (MEP, S&D), Franco ROBERTI (MEP, S&D), María Eugenia RODRÍGUEZ PALOP (MEP, GUE/NGL), Irene TINAGLI (MEP, S&D), Patrizia TOIA (MEP, S&D), Miguel URBÁN CRESPO (MEP, GUE/NGL)