Ein Jahr hat die türkische Regierungspartei AKP am Entwurf zum neuen Gesetz zur „Untersuchung der Sicherheit und Archiv-Recherche“ gearbeitet, bevor es am 31. März mit den Stimmen der Opposition in der Nationalversammlung abgelehnt wurde. Mit Verweis auf angebliche Verfahrensfehler wird heute erneut über den Gesetzesentwurf abgestimmt. Normalerweise wäre eine Abstimmung über das gleiche Gesetz erst nach einem Jahr wieder zulässig. Aber worum geht es in diesem Gesetz? Darüber haben wir mit Rechtsanwältin Yıldız İmrek in Istanbul gesprochen.
Wie ist die erneute Abstimmung über einen abgelehnten Gesetzesentwurf rechtlich zu bewerten?
Abstimmungen für ungültig zu erklären und danach erneut durchzuführen, ist für die AKP inzwischen zur Routine geworden. Nach den Wahlen am 7. Juni 2015 hat die AKP den Verlust ihrer Parlamentsmehrheit nicht anerkannt und deshalb die Neuwahlen im November herbeigeführt. Der Sieg der Opposition bei den Istanbuler Wahlen am 31. März 2019 wurde nicht anerkannt und die Wahl wiederholt. Jetzt wird eine Abstimmung des Parlaments nicht anerkannt. Auf Befehl der Regierenden und unter Missachtung der Rechtslage lässt der Parlamentspräsident erneut abstimmen. Eigentlich darf ein abgelehnter Gesetzesentwurf ein ganzes Jahr lang nicht erneut zur Abstimmung gestellt werden. Ich hoffe, dass die Abgeordneten diesen Angriff auf ihre Entscheidung nicht hinnehmen werden. Ein auf diese Weise verabschiedetes Gesetz wäre schon rein formal verfassungswidrig.
Wie konnte dieser Gesetzesentwurf trotz der Ablehnung durch das Verfassungsgericht erneut zur Abstimmung vorgelegt werden?
Während des Ausnahmezustands im Jahr 2016 wurde Paragraf 48 des Beamtengesetzes so angepasst, dass er eine „Sicherheitsuntersuchung und/oder Archiv-Recherche“ als Voraussetzung für ein Beamtenverhältnis fordert. Diese Änderung wurde am 1. Februar 2018 vom Parlament in Gesetzesrang erhoben.
Am 24. Juli 2019 erklärte das Verfassungsgericht dieses Gesetz unter Berufung auf die Artikel 13, 20 und 128 für verfassungswidrig. Laut Einschätzung des Gerichts ist das Gesetz verfassungswidrig, da „das Einholen von persönlichen Daten im Rahmen von Sicherheitsuntersuchung und Archiv-Recherche zum Zwecke der Überprüfung der Verfassungs- und Gesetzestreue der Staatsbediensteten zwar im Ermessen des Gesetzgebers liegt, da aber keinerlei Festlegung darüber stattgefunden hat, welche Daten und Dokumente erhoben werden, wie diese zu verwenden sind, und welche Behörde die Untersuchung durchführen soll, verstößt dieser Rechtseingriff gegen die Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit und Verhältnismäßigkeit aus Art. 13, gegen Art. 20, der die Daten des Privatlebens unter Schutz stellt und gegen Art. 128, der vorschreibt, dass Regelungen von Beamtenverhältnissen per Gesetz zu erfolgen haben.“
Diese Entscheidung trat am 29. November 2019 in Kraft. Nach dem Beschluss hatte das Parlament die Möglichkeit, die vom Gericht geforderten Garantien in ein neues Sicherheitsuntersuchungs-Gesetz einzuarbeiten. Eine überarbeitete Version des Gesetzes wurde am 19. Februar 2020 erneut vom Verfassungsgericht kassiert, da es nach Ansicht des Gerichts nicht dem Prinzip des Schutzes persönlicher Daten genügte. Diese Entscheidung wurde dann am 28. April 2020 im Gesetzesblatt veröffentlicht. Jetzt versucht die Koalition von AKP und MHP ein weiteres Gesetz zum gleichen Thema zu verabschieden. Dieser Entwurf wurde dann vor einigen Tagen mit den Stimmen der Opposition abgelehnt.
Was würde ein Inkrafttreten dieses Gesetzes bedeuten?
Die Sicherheitsuntersuchung wurde während des Militärputsches von 1980 und in der darauffolgenden Zeit eingesetzt, um selbst die kleinste Abweichung von der vorherrschenden Staatsideologie, linke Ideen, teilweise auch Ideen des politischen Islam sowie religiöse und ethnische Minderheiten als „unerwünscht“ zu markieren. Dadurch wurde unter Missachtung von Gleichheit, Transparenz, Rechtsstaatlichkeit und Qualifikation vielen Wissenschaftler*innen und Intellektuellen die Möglichkeit auf eine staatliche Anstellung genommen. Es wurden riesige Karteien über die Bürgerinnen und Bürger angelegt. Durch den Widerstand der Bevölkerung gegen die Tyrannei der Militärjunta wurde auch die Sicherheitsuntersuchung wieder abgeschafft. Das jetzt nach dem Putschversuch von 2016 erst ein Ausnahmezustand verhängt wurde und dann im Rahmen des Präsidialsystems das gleiche System zu einem permanenten Zustand gemacht werden soll, ist nicht mit einer Demokratie vereinbar.
Die Sicherheitsuntersuchung verstößt gegen das Recht auf Privatsphäre der Menschen, die sich auf den Staatsdienst bewerben. Sie ist außerdem eine unverhältnismäßige Einschränkung des Arbeitsrechts. Viele Ingenieurinnen, Juristen, Veterinärmedizinerinnen, Ärzte, Krankenpflegerinnen, Techniker und weitere werden ihren erlernten Beruf nie ausüben können. Gleichzeitig wird auch die Verfügbarkeit von qualifizierten staatlichen Dienstleistungen für alle anderen eingeschränkt. In einem Rechtsstaat dürften nur in bestimmten Bereichen wie zum Beispiel bei Sicherheitskräften und Geheimdienst Sicherheitsuntersuchungen durchgeführt werden. Und selbst für Personal mit Zugriff auf Geheiminformationen müsste die Sicherheitsuntersuchung entsprechend objektiver Kriterien durchgeführt werden, so wie es auch bei anderen Ermittlungen eine Strafprozessordnung gibt. Für Staatsbedienstete ohne Zugriff auf Geheiminformationen darf es eine solche Sicherheitsuntersuchung überhaupt nicht geben. Stellen Sie sich vor, eine exzellente Chirurgin könnte keine Operationen durchführen und keine Kranken behandeln, weil sie in den Augen der momentanen Machthaber eine unerwünschte Person ist. Ihre Einstellung hat keinerlei Einfluss auf ihre Arbeit.
Auf der anderen Seite haben wir durch die Ernennungen seitens AKP und MHP in der letzten Zeit viele Richter und Staatsanwälte, die von den Prinzipien und Grundlagen von Strafrecht, Zivilrecht, Handelsrecht und Prozessrecht keine Ahnung haben. Wir können unseren Mandantinnen und Mandanten Gerichtsurteile oft nicht mehr erklären. Das gleiche werden wir auf noch schlimmere Weise im Gesundheitsbereich, bei der Bildung, beim Staatshaushalt und in allen Zweigen der Verwaltung erleben, falls dieses Gesetz in Kraft tritt.