Es war bereits von Anfang an klar, dass nach der Stichwahl zur Präsidentschaft am 28. Mai der Kampf in eine neue Phase eintreten würde. Unklar war jedoch noch, gegen wen der Kampf mit welchen Methoden geführt werden würde. Diese Ungewissheit wurde durch das Ergebnis der unter schwerer Repression und Betrug stattgefundenen Wahlen ausgeräumt. Der zweite Wahlgang ist ausgezählt, die Ergebnisse der besagten Wahl liegen vor.
„Der Kampf wird auf neuen Wegen ein höheres Niveau erreichen“
Entsprechend dieser Ergebnisse wird die neue türkische Regierung von Tayyip Erdoğan und seiner Volksallianz gebildet. Das bedeutet, die neue Phase des Kampfes wird sich gegen Tayyip Erdoğan und die Volksallianz richten und ist eine Fortsetzung der Phase vor der Wahl und der im Wahlkampf. Aber es wird keine Wiederholung des Alten sein. Denn Tayyip Erdoğan und die Volksallianz werden nicht wie vorher angreifen. Deshalb wird auch der Kampf gegen Tayyip Erdoğan und seine Volksallianz ein anderer sein. Der Kampf wird auf neuen Wegen und mit neuen Methoden ein noch größeres Niveau erreichen. Dafür ist es notwendig, sich von alten Lasten durch die Methode der Kritik und Selbstkritik zu befreien.
„Erdoğans Angriffe weiten sich im In- und Ausland aus“
Diese Veränderung wurde bereits in der Ansprache von Tayyip Erdoğan nach der Wahl deutlich. Er hat klar gemacht, dass er die Angriffe im In- und Ausland steigern und dafür noch stärker die Diplomatie einsetzen werde. Es wurden unverzüglich Gespräche mit der irakischen Regierung und mit der NATO in Hinsicht auf den schwedischen Beitritt aufgenommen. Mit den neuen Verhaftungen im Inland und der Belagerung von Mexmûr und dem Luftangriff auf Şengal im Ausland haben die Angriffe, von denen er sprach, sofort begonnen. Die Zunahme der Angriffe auf die Guerilla ist ebenfalls ein Teil dieser Politik. Das zeigt die dringende Notwendigkeit, dass sich die revolutionäre und demokratische Bewegung erneuern und umgehend einen neuen antifaschistischen Widerstandsprozess entwickeln muss.
„Erneuerung und Restrukturierung der antifaschistischen Kräfte dringend notwendig“
Hierbei sind ohne Zweifel eine echte Selbsterneuerung und Restrukturierung von größter Bedeutung. In diesem Sinne müssen sowohl die Phase vor den Wahlen als auch der Wahlkampf korrekt analysiert werden, und es müssen umfangreiche Lehren daraus gezogen werden. Auf der Grundlage dieser Lehren sind Selbsterneuerung, Veränderung, Korrektur und Umstrukturierung erforderlich.
Es wird behauptet, dass der von der revolutionär-demokratischen Bewegung entwickelte Prozess einer Selbstkorrektur durch Selbstkritik und Neustrukturierung von verschiedenen faschistischen und sozialfaschistischen Strukturen angegriffen würde; auf diese Weise wird versucht, den Prozess der selbstkritischen Korrektur zu sabotieren, zu entleeren und letzten Endes umzukehren. Ohne Zweifel mag es solche Angriffe unserer Gegner geben. Aber nur weil diese Angriffe stattfinden, dürfen wir nicht aufhören, uns durch Kritik und Selbstkritik zu korrigieren und zu erneuern. Aber wir können diesen Angriff auch nicht ignorieren. Was sollten wir also unter diesen Umständen tun?
„Selbstvertrauen und konstruktive Kritik und Selbstkritik sind gefragt“
Erstens ist es notwendig, sich selbst zu vertrauen und die richtige Linie der Kritik und Selbstkritik zu finden. Wie sieht also die Selbstkritik aus, die die revolutionären und demokratischen Kräfte in der gegenwärtigen Situation üben müssen? Es ist ganz klar, dass der antifaschistische Kampf zu führen ist und dass dieser Kampf mit dem Ziel eines Erfolgs geführt werden muss. Nicht zu kämpfen, Pazifismus, Kapitulation und Erfolglosigkeit können keinen Maßstab für Selbstkritik darstellen.
Zweitens ist es notwendig, auf Faktoren wie Ort, Zeit und Form zu achten. Es darf nicht am falschen Ort und zur falschen Zeit agiert werden. Auch gilt es, auf die Sprache und den Stil zu achten. Unsere Sprache und unser Stil müssen gewinnend, korrigierend, überzeugend und transformierend sein; mit anderen Worten, sie müssen den Maßstäben und Grenzen der Genossenschaftlichkeit entsprechen.
Eine Aufarbeitung der Vergangenheit auf dieser Grundlage, d.h. eine kritische und selbstkritische Betrachtung, schwächt die revolutionäre und demokratische Bewegung nicht, im Gegenteil, es stärkt sie und bringt sie voran. Wenn die Fehler und Unzulänglichkeiten der intensiven Praxis der Vergangenheit zusammen mit ihren Ursachen ans Licht gebracht werden, werden damit das revolutionär-demokratische Individuum, die Partei, die Bewegung und das Bündnis gestärkt. Es handelt sich um einen Reinigungsprozess, der uns von Rost und Schmutz befreit.
„Die Wahlen waren extrem wichtig“
Zweifellos ist es in einem solchen Reflexionsprozess wichtig, in die Tiefe zu gehen, ruhig und offen zu diskutieren, um gemeinsam Wahrheiten herauszufinden und eine gemeinsame Basis aufzubauen. Zum Beispiel haben die Wahlen unter den Bedingungen des Faschismus stattgefunden und waren mit Sicherheit weder gerecht noch gleich. Alle Bewertungen müssen diese Tatsache miteinbeziehen. Aber dieser Punkt darf auch nicht überbewertet und die Ergebnisse dürfen nicht nur damit in Verbindung gebracht werden. Es ist auch wichtig zu vermeiden, dass die Auffassung entsteht, die vergangenen Wahlen seien nicht so wichtig gewesen.
Im Gegenteil: Die Wahlen vom 14. und 28. Mai waren wichtig, sogar sehr wichtig. Sie waren Teil des antifaschistischen Widerstands, der sich gegen die faschistischen Angriffe des AKP/MHP-Faschismus auf der Grundlage des „Niederwerfungsplans“ entwickelt hat. Auf dieser Grundlage sahen wir die Wahlen als eine wichtige Kampfmethode, mit der wir sowohl den antifaschistischen Kampf vorantreiben, als auch, wenn möglich, den Sturz des AKP/MHP-Faschismus einleiten wollten. Letztendlich haben diese Wahlen einen wichtigen Beitrag zum Kampf gegen den AKP/MHP-Faschismus geleistet. Es handelte sich um einen guten Kampf, aber im Ergebnis ist es uns nicht gelungen, den AKP/MHP-Faschismus zu stürzen.
„Volksarbeit war zu schwach“
Kurz gesagt, unsere Einschätzungen bezüglich der Wahl, ihrer Bedeutung und unserer Beteiligung waren richtig. Auch die Entscheidung, die Freiheitsbewegung Kurdistans und die linkssozialistische Bewegung der Türkei in einem gemeinsamen Bündnis zu vereinen, war korrekt. Letztendlich war es auch richtig, den Präsidentschaftskandidaten der Nationalen Allianz zu unterstützen. Diese richtigen Perspektiven und Strategien konnten jedoch in der Praxis nicht korrekt und mit ausreichendem Erfolg umgesetzt werden. Gewisse Fehler wurden in dem Demokratischen Bündnis für Arbeit und Freiheit, bei der Art der Unterstützung von Kemal Kılıçdaroğlu und bei der Aufstellung der Kandidatenliste gemacht. Vor allem aber erwies sich die Organisierung der demokratischen Politik, der Beziehung zu den Massen und die Volksarbeit als schwach und unzureichend.
„Ein Sturz des Faschismus wäre möglich gewesen“
Das sind die Fakten, die man glauben und als wahr akzeptieren muss: Wenn alles richtig und rechtzeitig gemacht worden wäre, hätten Tayyip Erdoğan und die Volksallianz bei den Wahlen am 14. Mai besiegt werden können und der Prozess der Zerschlagung des Faschismus hätte beginnen können. Auch hätte das Bündnis für Arbeit und Freiheit die angestrebte Zahl von hundert Parlamentssitzen erreichen und sogar übertreffen können. Der gewünschte und angestrebte Wandel in der türkischen Regierung hätte realisiert werden können. Denn es ist sowohl innerhalb als auch außerhalb ein sehr starkes Klima für einen Wandel entstanden. Die Gesellschaft in der Türkei und insbesondere die Kurd:innen wollten diesen Wandel und auf dieser Grundlage wären der Faschismus tatsächlich gestürzt und die Wahlen gewonnen worden. Es waren Kemal Kılıçdaroğlu und die Nationale Allianz, die es nicht geschafft haben, dies zu nutzen und die Wahl zu gewinnen. Diese Kräfte konnten sich selbst nicht erneuern und der Gesellschaft kein ernsthaftes Programm, das über das der AKP/MHP-Regierung hinausgeht und mehr sagt, als dass man das parlamentarische System wieder einführen wolle, anbieten. Sie diskutierten nicht offen über die grundlegenden Probleme der Türkei und deren Lösungswege, insbesondere die kurdische Frage blieb außen vor. Daher konnten sie weder überzeugen noch Wirksamkeit entfalten.
„Die eigentlichen Verlierer sind Kılıçdaroğlu und seine Nationale Allianz“
Es ist nicht einmal klar, inwiefern sie wirklich zu den Wahlen antraten, um zu gewinnen. Es war ein schwerer Fehler, dass die vier Parteien der Nationalen Allianz auf der Liste der CHP zu den Wahlen antraten. Das hat der CHP nicht nur keinen Stimmengewinn, sondern auch erhebliche Stimmenverluste eingebracht. Auch war Kemal Kılıçdaroğlu nicht der richtige Kandidat, um die Wahl zu gewinnen. Der Staat, der so sehr auf der Kurdenfeindschaft und dem Krieg beharrt, war nicht bereit, die Macht an Kılıçdaroğlu, einen Kurden und Aleviten aus Dersim, abzugeben. Dazu kommt, dass Kılıçdaroğlu selbst nicht für diese Identitäten eingetreten ist. Diese Situation hat seine Glaubwürdigkeit und seinen Einfluss in der Bevölkerung beschädigt.
Eigentlich gibt es zwei Wahlsieger. In der Türkei ist es Tayyip Erdoğan mit seiner Volksallianz und bei den Kurd:innen ist es die Grüne Linkspartei (YSP). Der größte Verlierer der Wahl ist Kemal Kılıçdaroğlu und seine Nationale Allianz. Das lag daran, dass sie keine alternative Perspektive und ein entsprechendes Programm zur Volksallianz anbieten konnten. Ja, die Nationale Allianz war letzten Endes eine umlackierte Volksallianz. Die Grüne Linkspartei und das Bündnis für Arbeit und Freiheit hatten die Chance, große Erfolge zu erzielen, haben dies aber nicht getan. Es wurde insbesondere nicht geschafft, die Basis unter den Völkern der Türkei zu verbreitern. Der selbstkritische Neuanfang muss vor allem auf dieser Grundlage erfolgen. Zweifellos müssen sich alle an einer solchen erneuernden Umwälzung beteiligen.
Selahattin Demirtaş hat zum Beispiel angekündigt, sich bis auf weiteres aus der aktiven Politik zurückzuziehen. Es ist seine eigene Entscheidung, die wir natürlich respektieren müssen. Unter den aktuellen politischen Bedingungen gibt es ohnehin keine Möglichkeit mehr, Politik zu machen. Und jetzt, beim einem Rückzug aus der aktiven Politik, sollte dies natürlich die Grundlage für eine Selbstkritik in Bezug auf den aktiven politischen Prozess der Vergangenheit bilden.
„Kritik bedeutet nicht Verurteilung und Ausschluss, sondern Erneuerung“
Die Kritik und Selbstkritik am Wahlprozess kann nicht in Form einer Beichte erfolgen. Sie kann auch nicht durch Verurteilungen und Ausschlüsse vom Kampf erfolgen. Ziel muss es sein, sich auf der Grundlage von Kritik und Selbstkritik zu erneuern und den antifaschistischen Kampf zu stärken. Auf der Grundlage einer solchen Erneuerung und Korrektur sollte eine neue Struktur entstehen, die alle einbezieht, den neuen und den jungen Menschen den Weg frei macht, die Erfahrungen der Alten nutzt und schließlich jedem den passenden Platz und die entsprechende Aufgabe zuweist. Konsequente Demokrat:innen und Patriot:innen werden diesen Prozess entwickeln und sich mit noch größerer Entschlossenheit und Moral dem Kampf zur Zerschlagung des Faschismus zuwenden. Der Weg für sie, dies zu tun, ist frei und sie werden sicherlich erfolgreich sein.