Nach dem deutlich unter Erwartung liegenden Ergebnis der Grünen Linkspartei (YSP) bei den Parlamentswahlen in der Türkei hat nun eine Phase der Kritik und Selbstkritik begonnen. Bei den Wahlen am 14. Mai war die vom Verbot bedrohte Demokratische Partei der Völker (HDP) unter dem Dach der Grünen Linkspartei angetreten und hatte deutliche Verluste erlitten. Der Prozentanteil sank von 11,62 Prozent 2018 auf aktuell 8,79 Prozent. Dies ist sicherlich zu einem großen Teil der hohen Repression und dem Wahlbetrug durch das Regime zuzuschreiben. Dennoch beginnt nun eine intensive Auseinandersetzung mit den Mängeln und Fehlern bei der HDP und YSP. Wie bereits gemeldet, haben die Ko-Vorsitzenden der HDP, Pervin Buldan und Mithat Sancar, angekündigt, nicht mehr für den Vorstand zu kandidieren. Cahit Kırkazak aus dem Vorstandskomitee der YSP berichtet im ANF-Gespräch über den anstehenden Prozess.
Keine demokratische Wahl, sondern Selbstbestätigung autoritärer Herrschaft
Kırkazak sagt, dass Wahlen allein nicht der entscheidende Faktor in einer Demokratie seien. Vielmehr sei es die Frage, ob die Demokratie vergesellschaftlicht werden könne und sich der Wille der Bevölkerung in der Regierung widerspiegele. Eine demokratische Wahl mache aus, dass alle politischen Parteien die gleichen Möglichkeiten hätten, die Mittel zur Erreichung der Öffentlichkeit und die institutionellen Möglichkeiten zu nutzen: „Wenn dem nicht so ist, sind Wahlen nichts Weiteres als ein Mittel der Herrschenden, ihren Status quo selbst zu bestätigen. Wir haben in diesem Prozess gesehen, dass die Staatsallianz aus AKP und MHP anstatt eine demokratische Wahl durchzuführen, versucht hat, die Gesellschaft dazu zu bringen, ihre Diktatur und autoritäre Herrschaft zu bestätigen. In der Theorie wird so etwas ein Plebiszit genannt. In diesem Prozess hat sich Erdoğan nicht darauf beschränkt, alle Instrumente und Mittel des Staates einzusetzen, sondern es auch bewusst vermieden, ein transparentes und vertrauenswürdiges System zu schaffen. So haben sich beispielsweise Ministerien, die nach der Verfassung vor den Wahlen neutral hätten sein müssen, in keiner Weise zurückgenommen. Alle Minister im Kabinett nutzten die unbegrenzten Mittel des Staates für Wahlkampfzwecke. Beim staatlichen Sender TRT und seinen Kanälen hatte die Regierung einen Freibrief, während die Opposition blockiert wurde. Der Wahlkampf der Kurd:innen und der YSP wurde permanent kriminalisiert. Man drohte uns offen mit paramilitärischen Kräften und legte damit die Grundlage für die Angriffe, die es an einigen Orten auf uns gab. Während des Wahlkampfs wurden unsere Fahrzeuge mit Steinen beworfen, unsere Kandidatinnen und Kandidaten wurden inhaftiert. Parteimitglieder, die Wahlkampfaktivitäten durchführten, wurden festgenommen und die meisten von ihnen wurden ebenfalls verhaftet.“
„Wahlkampf basierte auf Mischung aus nationalistischer und religiöser Hassrede“
Kırkazak betont, das Regime habe im Wahlkampf vor allem die Karte der Kurdenfeindschaft gespielt, und führt aus: „Die Staatsallianz führte eine antidemokratische Wahlkampagne durch. Dazu nutzte sie ihr Monopol auf staatliche Gewalt und Gelder. Autoritäre Herrscher oder Diktatoren haben zwei grundlegende Argumente: Das eine ist das Argument der Religion und das andere ist der Nationalismus. Die AKP hat beides zusammen in Verbindung mit Hassrede benutzt.“
„Ein Schlag gegen das Zusammenleben“
Kırkazak weiter: „Wenn eine Wahl durch das Schüren des Hasses auf ein Volk gewonnen wird, dann bedeutet das, dass es für die Gesellschaft viel schwerer geworden sind und die Grundlage des Zusammenlebens ernsthaft erschüttert wurde. Zweifellos werden wir darauf nicht mit Türkenfeindlichkeit oder Feindseligkeit gegenüber einer anderen Nation reagieren. Gegenüber dieser erbitterten Kurdenfeindschaft werden wir immer ein Ort sein, an dem mutig die kurdische Realität, die Rechte der Armenier:innen, der Tscherkess:innen und der Griech:innen verteidigt werden. Die gesamte Opposition sollte in dieser Hinsicht sensibel sein und begreifen, wie gefährlich diese Methode der Regierung ist.“
„Den gesellschaftlichen Kampf vereinen“
Die Wahlergebnisse der Grünen Linkspartei seien als Misserfolg zu bewerten, sagt Kırkazak. Die Ursachen lägen aber nicht im Aufbau des Bündnisses für Arbeit und Freiheit, sondern in Mängeln in dessen praktischer Umsetzung. „Als das Bündnis für Arbeit und der Freiheit gegründet wurde, war es eine Kampfallianz“, führt er aus. „Mit anderen Worten, alle sozial Ausgegrenzten der Türkei, d.h. die Benachteiligten, bildeten eine Einheit des Kampfes für ein gesellschaftliches Zusammenleben, ein ökologisches Leben, ein Zusammenleben der unterschiedlichen Identitäten und für den Aufbau eines gesellschaftlichen Lebens. Gegenwärtig herrscht ein monistisches, patriarchales, autoritäres staatliches Denken, das sich aggressiv gegenüber jeglicher Diversität und Freiräumen in der Gesellschaft verhält. Gegen diese Aggression müssen sich die benachteiligten Menschen in einer sozialen Kampfkoalition zusammenschließen.
„Wir haben den Wahlkampf nicht richtig geführt“
Das größte Unglück dieser Allianz war es, dass die Wahlen unmittelbar nach der Bildung des Bündnisses stattfanden. Leider konnten wir diesen Prozess nicht auf richtige Weise führen. Es wäre unfair, das Wahlergebnis einem einzigen Bündnis zuzuschreiben. Wir sind der Meinung, dass dieses Bündnis erweitert und gestärkt werden sollte. Seit 150 Jahren wird die Gesellschaft durch Rassismus, Fundamentalismus und Staatsfixierung beherrscht. Solange der soziale Kampf nicht in diesem Sinne geeint ist, werden die derzeitigen monistischen politischen Kräfte immer in der Lage sein, durch die Ideologien von Fundamentalismus und Rassismus leicht Zustimmung in der Gesellschaft zu erzeugen, indem sie ihre Anhänger in dieser Hinsicht aufstacheln. Deshalb müssen diejenigen, die den sozialen Kampf für den Aufbau eines demokratischen Lebens führen, sich von Rassismus und Fundamentalismus fernhalten und sich dem Kampf der Frauen, der Arbeiter:innen, der Umwelt und der Jugend zuwenden und ihn auf alle Bereiche ausdehnen. Zweitens ist diese Region geprägt von einer Gemeinschaft von Völkern, sie wird nicht von einem einzigen Volk bewohnt. Alle Völker und Glaubensrichtungen müssen sich im Kampf vereinen. Deshalb ist dieses Bündnis sehr wertvoll. Unsere Aufgabe sollte es sein, die Unzulänglichkeiten, die wir in diesem Prozess erlebt haben, zu erkennen und zu versuchen, das Bündnis wieder zu stärken und zu vergrößern.“
„Die Kritik der Bevölkerung wird uns den Weg zeigen“
Zum Lösungsprozess in Bezug auf die bestehenden Mängel sagt der YSP-Politiker: „Natürlich sind soziale Kämpfe nicht auf die Wahlurnen zu beschränken. Die Wahlurne und das Parlament schaffen einen Raum, um den Kampf zu führen. Dessen sind auch wir uns bewusst. Die Kritik, die heute an uns geübt wird, geht genau in diese Richtung, die Notwendigkeit, diesen sozialen Kampf zu stärken. Wir sind eine Volksbewegung, und wir beziehen uns in allen Bereichen auf den Kampf des Volkes. Unsere Avantgarde ist das Volk. Die Kritik des Volkes wird auch uns den Weg zeigen. Niemand sollte den Eindruck haben, dass er kritisiere, aber seine Stimme nicht gehört und nicht beachtet werde. Heute haben wir mit unseren Sitzungen begonnen, auf denen die Roadmap für den bevorstehenden Prozess festgelegt wird. Wir vertrauen auf uns selbst als Volksbewegung. Wir sind keine Elite, keine Bewegung von gewählten Vertreter:innen oder eine Bewegung für die Wahl. Wir werden den Kampf auf dem Weg führen, den unser Volk uns vorgibt. Unser Volk wird nicht zögern, Vorschläge und Kritik an uns heranzutragen. Zusammen mit den bereits begonnenen Sitzungen werden wir in dieser Woche die Gespräche mit unserem Parteirat abschließen und am Ende der Woche mit den Ko-Vorsitzenden sprechen, um anschließend mit den Volksversammlungen zu beginnen. Wir möchten, dass unser Volk gut vorbereitet zu diesen Treffen und öffentlichen Versammlungen kommt. Wir werden diesen Prozess in all unseren Provinz- und Kreisverbänden in Kurdistan und der Türkei diskutieren und gemeinsam mit dem Volk eine Roadmap entwickeln. Wir sind fest davon überzeugt, dass wir mit den Kritiken und Vorschlägen unseres Volkes gestärkt aus diesem Prozess hervorgehen werden. Die Volksbewegung geht mit dem Volk und stärkt sich mit dem Volk.“