KNK-Dossier: Die Türkei setzt Chemiewaffen in Kurdistan ein

Der Nationalkongress Kurdistan (KNK) fordert internationale Institutionen und die Öffentlichkeit dazu auf, die Türkei für den Einsatz von Chemiewaffen zu verurteilen. Die Medien werden aufgefordert, über die türkischen Kriegsverbrechen zu berichten.

Der Nationalkongress Kurdistans (KNK) mit Sitz in Brüssel hat ein übersichtliches Informationsdossier zum völkerrechtswidrigen Einsatz verbotener Chemiewaffen durch den türkischen Staat in Kurdistan veröffentlicht. Neben einer ausführlichen Dokumentation der aktuellen Fälle formuliert der KNK deutliche Forderungen an internationale Institutionen, Regierungen und die Öffentlichkeit. Unter dem Hashtag #TurkeyUsesChemicals wird in digitalen Netzwerken gefordert, die türkischen Verantwortlichen für ihre Verbrechen in Kurdistan vor Gericht zu stellen. Wir dokumentieren das KNK-Dossier in voller Länge:

1.Einleitung

Mit diesem Bericht wollen wir die Aufmerksamkeit auf die rechtswidrigen Methoden lenken, die die Türkei in ihrem Krieg in Kurdistan anwendet. In Südkurdistan und den anderen Teilen Kurdistans verstößt die Türkei systematisch gegen internationale Konventionen wie das Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen (Chemiewaffenkonvention oder CWC). Vor allem während des Erstarkens des kurdischen Widerstands und des internationalen Bewusstseins für die kurdische Frage in den 1990er Jahren begann das türkische Militär, zusätzlich zu den Methoden des schmutzigen Krieges, die es seit Jahrzehnten angewandt hatte, wie z. B. außergerichtliche Tötungen, Folter, Niederbrennen von Dörfern und erzwungene Entvölkerung, auch chemische Waffen einzusetzen. Zu dieser Zeit unternahmen mehrere internationale Institutionen und die kurdische Öffentlichkeit große Anstrengungen und schafften es schließlich, die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit auf dieses Problem zu lenken. Doch leider hat die Art und Weise, wie die internationale Gemeinschaft auf den türkischen Einsatz von Chemiewaffen reagiert hat, die Türkei ermutigt, weiterhin systematisch gegen internationale Abkommen zum Verbot des Einsatzes von Chemiewaffen zu verstoßen.

In den vergangenen 30 Jahren wurden Dutzende von kurdischen Freiheitskämpfer:innen und Zivilist:innen, darunter Frauen und Kinder, durch chemische Waffen der türkischen Armee getötet. Der türkische Staat ging sogar so weit, dass er versuchte, den inhaftierten kurdischen Anführer Abdullah Öcalan im Jahr 2007 zu vergiften. Aufgrund der sofortigen und heftigen internationalen Reaktion wurde Öcalan kurz nach Bekanntwerden der Vorwürfe medizinisch behandelt. Trotz all dieser Vorfälle hat die Türkei nicht aufgehört, chemische Waffen in Kurdistan einzusetzen. Es wäre unmöglich, alle Angriffe mit chemischen Waffen aufzuzählen, die die türkische Armee im Laufe der letzten Jahrzehnte in Kurdistan durchgeführt hat. Internationalen Medienberichten zufolge wurden mehrere kurdische Kämpfer:innen getötet, als in den Jahren 2009, 2013 und 2017 Chemiewaffen gegen sie eingesetzt wurden. Die Türkei hat diese international geächteten Waffen verstärkt eingesetzt, insbesondere als sie Teile Nordostsyriens (Rojava) besetzte, die zuvor von den syrisch-kurdischen Kämpfer:innen und der internationalen Koalition vom Islamischen Staat (IS) befreit worden waren. Chemische Waffen wurden von der Türkei während der Invasion in Efrîn im Jahr 2018 und der Besetzung von Girê Spî und Serêkaniyê im Oktober 2019 eingesetzt. Der kurdische Junge Mohammed Hamid Mohammed, der selbst aus Serêkaniyê stammt, wurde weltweit bekannt, nachdem er bei einem türkischen Luftangriff mit weißen Phosphorbomben auf seine Heimatstadt schwere Verletzungen erlitten hatte.

Trotz all dieser nachgewiesenen Fakten und der zahlreichen Beweise sind die türkische Regierung unter Erdogan und das Militär des Landes von internationalen Institutionen und Staaten nie für ihre Verbrechen verurteilt worden. Sie alle haben ihre eigenen Gesetze und moralischen Pflichten ignoriert. Dieses Schweigen und die feige Erlaubnis der Erdogan-Regierung haben den Weg für den massiven Einsatz von Chemiewaffen durch die Türkei in den südkurdischen (irakisch-kurdischen) Regionen Metina, Zap und Avaşîn seit dem 23. April 2021 geebnet. Nach Angaben regionaler Nachrichtenagenturen und lokaler Quellen hat die türkische Armee bei ihren Angriffen auf Südkurdistan dutzende Male chemische Waffen eingesetzt. Mehrere Mitglieder der Guerilla und Zivilist:innen wurden bei diesen Angriffen getötet oder verletzt. Die in Südkurdistan ansässige Nichtregierungsorganisation Christian Peacemaker Teams-Iraq hat auf der Grundlage ihrer unabhängigen Recherchen in den von den türkischen Angriffen direkt betroffenen Gebieten mindestens einen dieser Fälle bestätigt. Mit diesem Bericht wollen wir auf die Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit dieser Angelegenheit hinweisen, die ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ein Kriegsverbrechen darstellt und zu einer dramatischen Schädigung der natürlichen Umwelt in Südkurdistan führt.

In diesem Bericht finden Sie Informationen, Bilder und Videos von lokalen Quellen, die den Einsatz von Chemiewaffen durch die Türkei eindeutig belegen. Die Erlaubnis zum Einsatz von Chemiewaffen, die einem autokratischen Führer wie Erdogan erteilt wurde, birgt die Gefahr, dass er in Zukunft an anderen Orten noch mehr unmenschliche und brutale Verbrechen begehen wird. Der Schutz der Menschlichkeit, der international anerkannten Werte und Vereinbarungen ist unser aller Pflicht, insbesondere der zwischenstaatlichen Institutionen und der Öffentlichkeit. Selbst die kleinsten Schritte dieser Institutionen, Erdogan für seinen Einsatz von Chemiewaffen offen zu kritisieren und zu verurteilen und ihn an seine internationalen Verpflichtungen zu erinnern, werden unmittelbar dazu dienen, Menschenleben zu retten und internationale Vereinbarungen zu schützen.

2. Türkischer Einsatz chemischer Waffen in Südkurdistan (Zap, Metina und Avaşîn)

Motiviert durch ihr neo-osmanisches Bestreben, ganz Südkurdistan zu besetzen und die dortige kurdische Bevölkerung zu vertreiben, führt die Türkei seit Jahrzehnten Boden- und Luftoperationen durch. Seit dem 23. April 2021 haben diese Operationen eine dramatische Eskalation erfahren. Neben dem Einsatz von Tausenden von Soldaten und einem riesigen Arsenal konventioneller Waffen griff die türkische Armee fast unmittelbar nach Beginn der Angriffe auch auf chemische Waffen zurück. Dies geschah, nachdem die türkische Armee erkannt hatte, dass sie den massiven Widerstand der HPG-Guerilla nicht brechen konnte. In ihren monatlichen Bilanzen haben die HPG (Volksverteidigungskräfte) 132 Angriffe mit chemischen Waffen auf Guerillakräfte zwischen dem 23. April und dem 23. August bestätigt. Seitdem gab es Dutzende weiterer Angriffe. Diese Angriffe haben unmittelbar zum Tod von mehr als einem Dutzend Mitgliedern der Guerilla geführt. Die am stärksten vom Einsatz chemischer Waffen betroffenen Gebiete sind Girê Sor und Werxelê in der Region Avaşîn. Hier sind die Guerillakräfte fast täglich gezwungen, sich gegen chemische Angriffe zu verteidigen. Auch die Zivilbevölkerung Südkurdistans ist vom türkischen Chemiewaffeneinsatz direkt betroffen. Am 4. September wurde das Dorf Hiror Berichten zufolge mit Chemiewaffen angegriffen, wobei Mitglieder einer örtlichen Familie verletzt wurden. Die Christian Peacemaker Teams-Iraq gehen davon aus, dass die Verletzungen der Familienmitglieder durch chemische Waffen verursacht wurden.

3. Türkischer Einsatz von Chemiewaffen in Nord- und Ostsyrien (Rojava)

Der Einsatz von Chemiewaffen durch die Türkei kommt für viele nicht überraschend. Vielmehr erinnern diese Angriffe an die türkischen Kriegsverbrechen der Vergangenheit, zuletzt an die Angriffe der Türkei auf die nordsyrischen Städte Girê Spî und Serêkaniyê im Oktober 2019. Seitdem die Kurd:innen und die anderen Völker Nord- und Ostsyriens ein System der Selbstverwaltung aufgebaut haben, versucht die Türkei verzweifelt, jeden Fortschritt in dieser Hinsicht zu verhindern. Die aggressive Haltung der Türkei gegenüber Nord- und Ostsyrien beruht auf der Befürchtung des Landes, dass die Kurd:innen in Syrien einen politischen Status erlangen könnten, der auf ihrem eigenen Willen beruht. Die anfänglichen Versuche der Erdogan-Regierung, die Selbstverwaltung im benachbarten Syrien zu zerschlagen, stützten sich von 2011 bis 2016 stark auf die Ausbildung, Ausrüstung und den Einsatz islamistischer Söldnertruppen wie al-Nusra und IS. Als diese radikalen Islamisten durch den erfolgreichen Widerstand der kurdischen Selbstverteidigungskräfte YPG/YPJ zerschlagen wurden, ging die Türkei dazu über, ihr eigenes Militär zu entsenden, um riesige Landstriche in Nordsyrien zu besetzen, darunter al-Bab (2016), Efrîn (2018) und Girê Spî und Serêkaniyê (2019).

Die Absprachen der Türkei mit der Trump-Administration und der russischen Führung sorgten dafür, dass sie von diesen internationalen Mächten grünes Licht erhielt. Das Ergebnis waren ethnische Säuberungen, Folter, demografische Veränderungen, Vergewaltigungen und eine enorme Umweltzerstörung in den Gebieten, die bis heute von der Türkei besetzt sind. Auch hier griff die Türkei auf den Einsatz chemischer Waffen zurück, um ihre Ziele zu erreichen. Der Einsatz von weißem Phosphor bei einem türkischen Luftangriff auf die Stadt Serêkaniyê am 17. Oktober 2019 führte zu einem großen internationalen Aufschrei. Mehrere Kinder wurden infolge dieser Angriffe mit schweren Verbrennungen am Körper ins Krankenhaus eingeliefert. Die QSD (Demokratische Kräfte Syriens), die multiethnischen Selbstverteidigungskräfte in Nord- und Ostsyrien, reagierten prompt und forderten offizielle internationale Untersuchungen.

4. Schwache internationale Reaktionen

Verglichen mit dem Ausmaß und der Dauer der türkischen Angriffe auf Südkurdistan haben die internationale Gemeinschaft und die Medien bisher wenig bis gar kein Interesse an den schwerwiegenden Folgen gezeigt. Abgesehen von sehr vorsichtigen und wenigen Erklärungen der irakischen Regierung haben bisher nur sehr wenige Länder die Türkei für die Besetzung des Territoriums eines ihrer Nachbarländer kritisiert oder die Regierung Erdogan für die Anwendung roher Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele verurteilt. Die ägyptische Regierung und die Arabische Liga gehören zu den wenigen internationalen Stimmen, die sich gegen die Aggressionen der Türkei ausgesprochen haben. Auch die internationalen Medien haben die gefährlichen Entwicklungen in Südkurdistan bisher weitgehend ignoriert. Nur sporadisch und vereinzelt wurde über die türkische Besatzung und den massiven Einsatz von Chemiewaffen berichtet. Dazu gehören Berichte der Jerusalem Post, des Morning Star und der deutschen Zeitung Junge Welt.

Während der Krieg in Gaza und die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan unbestreitbar internationale Aufmerksamkeit verdienen, hinterlässt das Schweigen zu den türkischen Angriffen auf Südkurdistan bei vielen Beobachtern den Eindruck eines bewussten Desinteresses an diesem Thema. Diese Vernachlässigung hat nicht nur schwerwiegende Folgen in der Region selbst, da sie die Türkei zu immer brutaleren Angriffen ermutigt, sondern wird in Zukunft auch zu ernsten Gefahren für die internationale Gemeinschaft führen. Wenn es der Türkei gelingt, Südkurdistan und große Teile Syriens zu besetzen, wird sie sich ermutigt fühlen, nach neuen Möglichkeiten zu suchen, ihre Macht in der Region und darüber hinaus auszubauen. Die provokativen Schritte der Türkei im östlichen Mittelmeerraum, in Nordafrika und im Kaukasus sind ein deutlicher Hinweis auf den gefährlichen Weg, den das Land einschlagen wird, wenn es nicht von der internationalen Gemeinschaft aufgehalten wird.

Vor allem internationale Institutionen wie die UNO, die EU und der Europarat, die Regierungen der USA und Großbritanniens sowie internationale Organisationen, die für das Verbot des Einsatzes von Chemiewaffen zuständig sind, haben kein einziges Wort gegen den Einsatz von Chemiewaffen durch die Türkei gesagt. All die Institutionen und Staaten, die den Einsatz von Chemiewaffen durch ihre Feinde gerne zur Rechtfertigung von Angriffen auf sie nutzen, schweigen, wenn diese Waffen von ihren Verbündeten, in diesem Fall der Türkei, eingesetzt werden. Die USA, Europa und die UNO haben den Einsatz von Chemiewaffen wiederholt als rote Linie und hochsensibles Thema bezeichnet und damit zahlreiche Kräfte gewarnt. Ihre heutige Haltung steht jedoch in krassem Widerspruch zu ihren eigenen Warnungen. Sie warnen den türkischen Staat nicht und greifen auch nicht aktiv ein, sondern spielen vielmehr eine wichtige Rolle als dessen politische Unterstützer. Dies zeigt deutlich die Heuchelei dieser Institutionen und Staaten.

5. Unsere Forderungen

Es besteht dringender Handlungsbedarf gegen den türkischen Staat, um zu verhindern, dass er noch mehr Verbrechen gegen die Kurd:innen begeht. Die Türkei setzt chemische Waffen ein, zündet Wälder an und unterdrückt das kurdische Volk und die Völker der Türkei. Die EU, die USA, die OPCW und die UN können ihre derzeitige Heuchelei, ihre mangelnde Haltung und ihre fehlende Moral nicht verbergen.

Wir rufen daher alle internationalen Institutionen, Regierungen und die internationale Öffentlichkeit auf...

...die Türkei für ihre Verbrechen und den Einsatz von Chemiewaffen zu verurteilen.

...die türkischen Regierungs- und Staatsbeamten für ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen vor Gericht zu stellen.

...Sanktionen gegen die Türkei wegen des Einsatzes chemischer Waffen zu verhängen.

...ein Waffenembargo gegen die Türkei zu verhängen.

Wir fordern die internationale Presse auf, ihr Schweigen zu brechen und über den Einsatz von Chemiewaffen durch die Türkei zu berichten.

Wir rufen die internationale Öffentlichkeit und alle demokratischen Kräfte auf, sich mit dem kurdischen Widerstand zu solidarisieren und die Forderung der Kurd:innen nach einem sofortigen Stopp der Angriffe und des Einsatzes von Chemiewaffen durch die Türkei zu unterstützen.