Kazan: Nicht einmal beim Militärputsch gab es Zwangsverwaltungen

Der renommierte Jurist Turgut Kazan beschreibt die Einsetzung von kommunalen Zwangsverwaltern in der Türkei als eine Maßnahme, die jeglicher Rechtsstaatlichkeit entbehrt.

Der renommierte Jurist Turgut Kazan hat sich in Istanbul gegenüber ANF zur juristischen Einordnung der Einsetzung von Zwangsverwaltern in den von der HDP regierten Städten und Kommunen geäußert. Kazan erklärte, dass diese Maßnahmen nichts mit einem demokratischen Rechtsstaat gemein hätten und solche Regelungen nicht einmal nach dem Militärputsch von 1980 umgesetzt worden seien. Die Praxis der Zwangsverwaltung wurde im Ausnahmezustand ab 2016 per Dekret umgesetzt und dann nachträglich vom Parlament ratifiziert und zu einem Gesetz gemacht.

Als Erdoğan Bürgermeister von Istanbul war

Kazan, der unter anderem auch den inhaftierten Bürgerrechtler Osman Kavala vertritt, wies darauf hin, dass die Absetzungen gewählter Bürgermeister*innen nichts mit Recht zu tun haben. Als Beispiel führte er Recep Tayyip Erdoğans eigene Biographie an: „So wie Erdoğan zu seiner Zeit als Bürgermeister von Istanbul trotz der Verurteilung wegen einer Straftat sein Amt behielt und als seine Strafe bestätigt wurde, sein Stellvertreter Ali Müfit Gürtuna zum Bürgermeister wurde, so wäre das heute auch notwendig gewesen. Was jetzt geschieht, hat nichts mit Demokratie oder Rechtstaatlichkeit zu tun. Ohne Einbeziehung der Justiz werden die Wahlergebnisse annulliert. Der Wählerwille wird ausgeschaltet und ein undemokratischer Prozess eingeleitet.“

Rechtsanwalt Turgut Kazan

Pandemie wird von der Regierung wie der Putschversuch benutzt

Kazan kritisiert auch den Zeitpunkt der Ernennung der Zwangsverwalter. Er bezeichnet es als inakzeptabel, in einer Zeit, in der die Menschen um ihr Leben fürchten, Bürgermeister*innen abzusetzen. Diese Maßnahme sei ohnehin besorgniserregend, die Pandemie werde von der Regierung für ihre Zwecke benutzt: „So wie der Putschversuch vom 15. Juli 2016 benutzt wurde, um mit Ausnahmezustandsdekreten Zwangsverwalter einzusetzen, so meint die Regierung jetzt, dass während der Pandemie für sie erneut der richtige Zeitpunkt gekommen sei. Das kann man nicht hinnehmen.“

Der juristische Weg ist ausgeschöpft

Kazan sagt, dass es in der Türkei keinen Weg mehr gebe, diese Maßnahmen juristisch anzufechten: „An wen soll man sich denn wenden? Bei wem soll man wen anzeigen? Man kann das Verwaltungsgericht anrufen, um eine Annullierung der Entscheidung zu beantragen, aber wer sitzt im Verwaltungsgericht?“ Um die Abhängigkeit der Justiz zu erkennen, reiche es aus, sich die Wahl des Vorsitzenden des Staatsrats zu betrachten: „Der Vorsitzende des Staatsrats interessiert sich nicht im Geringsten für Verwaltungsgerichtsbarkeit. Er hat auf verschiedenen Ebenen im Justizministerium gearbeitet, dann wurde er ins Präsidialamt versetzt und von da zum Staatsratsvorsitzenden gewählt. Diese Person ist für die unglaublichen Entscheidungen des Wahlausschusses verantwortlich und hat nicht die geringste Ahnung von Verwaltungsrecht, er wurde direkt vom Palast eingesetzt. Diese Person steht jetzt an der Spitze einer Institution, deren Aufgabe es ist, Verstöße gegen das Verwaltungsrecht und Rechtsverletzungen juristisch zu untersuchen. Das kann nicht sein.“

Ohne unabhängige Justiz keine sicheren Wahlen

Der Jurist weist darauf hin, dass es ohne eine unabhängige Justiz auch keine unabhängigen Wahlen geben kann und der Hohe Wahlausschuss (YSK) bei den Regionalwahlen sogar unversiegelte Wahlumschläge für gültig erklärt hat.

Es muss für eine unabhängige und unparteiische Justiz gekämpft werden

Kazan sagt, dass eine Justiz, die ihre Unabhängigkeit verloren hat und auf Befehl politischer Kräfte agiert, nicht mehr der Ort ist, an dem nach Recht gesucht werden kann. Er ruft zum Kampf für eine „unabhängige, unparteiische und qualitative Justiz“ auf.