Jahresrückblick von AZADÎ: „Es gibt viel zu tun“

AZADÎ e.V. hat zusammen mit seinem neuen Infodienst einen Rückblick auf das ausklingende Jahr veröffentlicht. 2023 gibt es viel zu tun, meinen Monika Morres und alle Aktiven des Rechtshilfefonds.

Der Rechtshilfefonds AZADÎ e.V. hat seinen neuen Infodienst mit Berichten über aktuelle Geschehnisse im Zusammenhang mit der Repression gegen die kurdische Bewegung veröffentlicht. Die Ausgabe enthält auch Informationen über den Anschlag in Paris am 23. Dezember, bei dem zwei Kurden und eine Kurdin getötet und zahlreiche Menschen verletzt wurden. Knapp zehn Jahre zuvor geschah ebenfalls in Paris das Attentat auf Sakine Cansiz (Sara), Fidan Doḡan (Rojbîn) und Leyla Ṣaylemez (Ronahî) – eine schreckliche Parallele. Für beide Taten machen kurdische Organisationen den türkischen Geheimdienst MIT verantwortlich.

Monika Morres und alle Aktiven bei AZADÎ wünschen den Leser:innen des Infodienstes „ein gutes, ein besseres Jahr“ und bedanken sich für das Interesse am Thema und die Unterstützung ihrer Arbeit“. Im Rückblick auf das ausklingende Jahr erklärt AZADÎ:

2022 war geprägt von Kriegen, Konflikten und dem Unwillen der Politik, trotz scheinbarer Ausweglosigkeit nach Lösungen auf dem Verhandlungswege zu suchen. Dem stehen handfeste ökonomische, geostrategische und machtpolitische Interessen entgegen – die Menschenrechte sind es nicht.

Politik der Doppelmoral

Wie anders ist es möglich, dass der Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine verbrecherisch genannt, der Widerstand der ukrainischen Bevölkerung heroisiert und das Land mit NATO-Waffen vollgepumpt wird, hingegen der völkerrechtswidrige Krieg des NATO-Mitglieds Türkei gegen die kurdische Bevölkerung und ihre zivilen Strukturen sowie die kurdische Befreiungsbewegung in Nordostsyrien und im Nordirak geduldet bis unterstützt wird? Ist das Leben von Kurdinnen und Kurden angesichts der internationalen Interessen weniger Wert?

An dieser höchst doppelmoralischen Politik beteiligt sich auch diese Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP, auch wenn sich einzelne Stimmen bei den Grünen deutlicher gegen die Kriegspolitik des türkischen Regimes äußern. Deutschland hat sich positioniert.

Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) reiste Ende Juli in die Türkei. Trotz einiger kritischer Anmerkungen gegenüber ihrem Amtskollegen bezeichnete sie Ankara als einen „unverzichtbaren Partner“. Im gleichen Monat begab sich Generalbundesanwalt Dr. Frank an den Bosporus und wurde sogar von Präsident Erdoḡan offiziell empfangen. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) folgte im November.  Bei allen Besuchen war das Thema „Bekämpfung der PKK“ zentraler Gegenstand der bilateralen Gespräche. 

Als müsse sie beweisen, gelehrige Schülerin des despotischen Lehrers zu sein, ging die Bundesregierung in medias res und ließ das Ergebnis dieser giftigen Dialoge in die Tat umsetzen:  Razzien in kurdischen Vereinen, Durchsuchungen der Wohnungen kurdischer Vereinsmitglieder, Festnahmen und zunehmend Ermittlungsverfahren nach §§129a/b aufgrund von Einzelermächtigungen durch das Bundesjustizministerium.

Politik gegen Verbote, Krieg und Willkür

Die Kurd:innen haben in diesem bald zu Ende gehenden Jahr aber auch gezeigt, dass sie ihre Stimme gegen Unrecht, Willkür, Krieg und Kriegsverbrechen durch die türkische Armee trotz mannigfacher Repressionen öffentlich und offensiv überall dort erheben, wo sie leben und ihnen ausgesetzt sind. Viele Menschen, die sich ihnen solidarisch verbunden fühlen, unterstütz(t)en sie bei Demonstrationen, Kundgebungen, Aktionen des zivilen Widerstands und Veranstaltungen .

Im Auftrag der PKK reichten die Rechtsanwälte Dr. Lukas Theune und Dr. Peer Stolle am 11. Mai einen Antrag zur Aufhebung des im November 1993 verfügten PKK-Betätigungsverbotes beim Bundesministerium des Innern ein. Zur Unterstützung der Begründung für diese Initiative hat Prof. Dr. Roland Hefendehl ein kriminologisches Gutachten erarbeitet und Prof. Dr. Joost Jongerden von der Universität Wagingen/NL eines zur Geschichte und Gegenwart der kurdischen Freiheitsbewegung (s. auch Seite „Zeit zum Lesen“).

Bis Redaktionsschluss haben die Anwälte noch keine offizielle Stellungnahme des Ministeriums erhalten. In der Fragestunde des Bundestages am 18. Mai erkundigte sich die Abgeordnete Gökay Akbulut (Linksfraktion) danach, ob die Bundesregierung aufgrund des Antrags eine Neubewertung des Betätigungsverbots vornehmen könne. Diese behauptete, der „Gewaltverzicht“ der PKK in Deutschland sei „lediglich eine strategische Option“, weshalb „keineswegs von positiven Veränderungen“ gesprochen werden könne. Aus diesem Grund stelle sich die Frage nach einer Aufhebung des Betätigungsverbots der PKK nicht.

Mit dem Forum „28 Jahre PKK-Betätigungsverbot. Jetzt reden wir!“, das am 18./19. Juni in Berlin stattfand, haben insbesondere Betroffene und Jurist:innen einen vertiefenden Überblick gegeben über die Folgen der jahrzehntelangen Kriminalisierung der kurdischen Bewegung.  Drei Teilnehmer:innen des Forums hatten es als Jury übernommen, eine Einschätzung zu veröffentlichen, in welchem Ausmaß die Grund- und Bürger:innenrechte von Kurd:innen verletzt werden und welche Forderungen an die politisch Verantwortlichen zu stellen sind. Dieser Bericht wurde u.a. im AZADÎ-Infodienst Nr. 226 (August/September) veröffentlicht.

Zum 29. Jahrestag des PKK-Betätigungsverbots beteiligten sich am 26. November knapp 3 000 Menschen an einer Demo u. a. in Berlin unter dem Motto „PKK-Verbot aufheben – Den Weg für Frieden ebnen“.  Hierzu aufgerufen hatte die Initiative „PKK-Verbot aufheben – Für eine demokratische Lösung der kurdischen Frage“, unterstützt wurde sie dabei von zahlreichen Organisationen und Gruppen, u.a. der  Roten Hilfe e.V., dem Dachverband der kurdischen Vereine in Deutschland, der  Interventionistischen Linken (IL), dem Verband kurdischer Frauen in Europa (YJK-E) und auch AZADÎ.

Schließlich führten am 18. Dezember der Verein für Demokratie und Internationales Recht (MAF DAD e.V.), die Föderation der freiheitlichen Gesellschaft Mesopotamiens in NRW (FED MED e.V.) und der Rechtshilfefonds AZADÎ e.V. in Köln eine Regionaltagung NRW „gegen die Kriminalisierung von Kurdinnen und Kurden“ durch. Sie gehört zu einer Veranstaltungsreihe in den verschiedenen Regionen Deutschlands, mit der 2019 in München begonnen und im September 2020 für die Region Hannover/Bremen fortgesetzt wurde, aufgrund der Pandemie aber unterbrochen werden musste. In Köln konnte die dritte Tagung stattfinden. Nach einer politisch-juristischen Einschätzung sind insbesondere von der Kriminalisierung Betroffene zu Wort gekommen.

2023: Markante Ereignisse

Im kommenden Jahr erwarten uns zwei markante Ereignisse:

Die Gründung der Republik Türkei vor 100 Jahren - für Kurdinnen und Kurden ein Jahrhundert der Unterdrückung und des Widerstands. Präsident Recep T. Erdoḡan, dessen nationalistische Propagandamaschinerie längst schon auf Hochtouren läuft, setzt alles darauf, die sog. kurdische Frage militärisch zu „lösen“, die politische Opposition zu ersticken und andere Länder durch Drohungen und Erpressungen in seinem Sinn in die Knie zu zwingen. Nichts Gutes ist mithin zu erwarten.

In Deutschland besteht das PKK-Betätigungsverbot 30 Jahre. Kaum etwas dokumentiert die Intensität des Verhältnisses aller Bundesregierungen zum NATO-Mitglied Türkei und belegt die politische Motivation der Kriminalisierung von Kurdinnen und Kurden besser als dieses Verbot. Deshalb wird es an uns allen liegen, diese Politik der Willkür, Doppelstandards und Komplizenschaft mit dem AKP/MHP-Regime zu entlarven und mit allen demokratischen Mitteln zu bekämpfen. Es gibt viel zu tun in diesem Jahr 2023.