Im Wissenschaftsverlag Westend academics ist ein Sammelband mit dem Titel „Die Entwicklung der kurdischen Freiheitsbewegung - Gesammelte Texte zur Einführung in Geschichte und Gegenwart“ der Akademiker Joost Jongerden und Ahmet Hamdi Akkaya erschienen. In diesem Werk werfen die beiden Autoren einen detaillierten Blick auf das politische Projekt der Arbeiterpartei Kurdistans, der PKK. Im Gegensatz zu den umfangreichen Untersuchungen der kurdischen Frage in der Türkei sind wissenschaftliche Werke zu den kurdischen Organisationen im deutschsprachigen Raum rar. Insbesondere dem Politikverständnis der PKK wurde wenig Aufmerksamkeit gewidmet, sodass diese Neuveröffentlichung eine Forschungslücke schließt. Die Texte führen vor Augen, dass die Idee der Neugestaltung der Gesellschaft Kurdistans als ein Projekt der radikalen Demokratie verstanden werden muss und nicht bloß eine lokal begrenzte Initiative, sondern vielmehr Teil einer größeren Idee ist.
Beitrag zu den aktuellen Diskussionen über radikale Demokratie
Ein Blick auf die Realitäten des Mittleren Ostens jenseits des Krieges lässt erkennen, dass in der Region neue Formen von Politik und Demokratie auf der Grundlage von praxisbezogenen Versuchen und Experimenten entstehen. So werden an verschiedenen Orten Kurdistans Selbstverwaltungsstrukturen aufgebaut. Diese neuen Formen von Politik und ein Neudenken von Demokratie in Kurdistan sind ohne die PKK nicht zu verstehen. Es ist der PKK gelungen, die Forderungen nach kurdischer Identität in einem Projekt der radikalen Demokratie zu vereinen. Die Idee der Neugestaltung der Gesellschaft wird hierbei als ein Projekt der radikalen Demokratie gedacht. Und dieses Demokratiekonzept ist deshalb radikal, weil es sich eine Demokratie jenseits von Nation und Staat vorstellt.
Außerhalb der kurdischen Bewegung sind allerdings die Ideen des Demokratischen Konföderalismus oder der Demokratischen Autonomie kaum bekannt oder werden bewusst ignoriert. Dabei ist vor allem für diejenigen, die sich mit neuen Formen demokratischer Partizipation auseinandersetzen, die Beschäftigung mit diesen Ideen und Modellen von enormer Bedeutung. Das vorliegende Werk verspricht den Leser:innen in diesem Sinne sowohl das Wissen über das politische Leben in Kurdistan und der heutigen Türkei zu erweitern, als auch einen kritischen Beitrag zu den aktuellen Diskussionen über radikale Demokratie zu leisten.
„Hervorragende Einführung und aufschlussreiche Analyse der dynamischsten Aspekte zeitgenössischer kurdischer Politik“
Das Vorwort des Buches wurde vom italienischen Professor Sandro Mezzadra verfasst. Er betont darin unter anderem die Bedeutung der PKK über den kurdischen Kontext hinaus: „Aus diesem Grund sind Geschichte und Gegenwart der PKK, die in diesem Buch mit wissenschaftlicher Sorgfalt und politischem Engagement rekonstruiert und diskutiert werden, auch über den kurdischen Kontext hinaus so wichtig. Es ist kein Zufall, dass die Doktrin und die Praktiken des ‚demokratischen Konföderalismus‘, wie sie zum Beispiel im Experiment von Rojava zum Ausdruck kommen, an verschiedenen Orten der Welt Widerhall finden. Dies tun sie in einer Weise, die an die Zustimmung erinnert, die dem Zapatismus nach dem Aufstand in Chiapas von 1994 entgegengebracht wurde. Sowohl der Zapatismus als auch die PKK, die oft miteinander verglichen werden, liefern uns inspirierende Beispiele für Bewegungen, die in der Lage sind, die Geschichte und Erfahrung der Guerilla in eine Politik der Befreiung – jenseits des Staates – für das 21. Jahrhundert umzuwandeln.“
Auch der politische Philosoph und Literaturtheoretiker Michael Hardt betont in seinem Kommentar: „Die theoretischen und praktischen Bestrebungen der kurdischen Politik, neue Formen von Demokratie und Selbstbestimmung zu entwickeln, gehören zu den originellsten und inspirierendsten Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. Dieser Sammelband bietet sowohl eine hervorragende Einführung als auch eine aufschlussreiche Analyse der dynamischsten Aspekte zeitgenössischer kurdischer Politik.“
Vom Entstehungshintergrund über den Paradigmenwechsel bis hin zu jüngeren politischen Entwicklungen
Der Sammelband gliedert sich in drei zentrale Abschnitte. Zunächst wird der Entstehungshintergrund der PKK aus verschiedenen Blickwinkeln näher beleuchtet. Anschließend folgt eine Untersuchung des sogenannten Paradigmenwechsels der PKK, bevor der Band mit Beiträgen über die jüngsten politischen Entwicklungen in der Türkei und in Nordkurdistan abschließt.
Joost Jongerden beschäftigt sich in seiner Untersuchung vor allem mit der Fähigkeit der PKK, aus Niederlagen zu lernen und sich als Bewegung weiterzuentwickeln: „(…) die PKK [ist] in der Lage, sich nach einer Niederlage – oder vielmehr durch eine Niederlage – neu zu erfinden. Indem sie sich mit Rückschlägen beschäftigte und Misserfolge analysierte, indem sie die ‚schlechten Seiten‘ betrachtete, konnte sich die PKK (weiter-)entwickeln und sich als eine Bewegung, die Geschichte macht, ‚neu erfinden‘.“
Jongerden macht auch darauf aufmerksam, dass das radikaldemokratische Projekt der PKK allen eine Perspektive biete, die sich die Befreiung oder das Projekt der Emanzipation jenseits des Staates durch eine Ermächtigung der Gesellschaft vorstellen: „Öcalans Denken liefert jedoch keine Blaupause, sondern überlässt es denjenigen, die sich von seinen Ideen inspiriert fühlen, selbst herauszufinden, wie sie ihre eigenen Arbeitsmethoden entwickeln können.“
Der Sammelband „Die Entwicklung der kurdischen Freiheitsbewegung“ ist beim Westend-Verlag veröffentlicht worden und wird am Ende des Jahres auch als kostenloser Download unter Creative-Commons-Lizenz zur Verfügung stehen.
Joost Jongerden, Ahmet Hamdi Akkaya: Die Entwicklung der kurdischen Freiheitsbewegung - Gesammelte Texte zur Einführung in Geschichte und Gegenwart, Westend academics, Frankfurt 2022, 280 Seiten, 39 Euro.