Hungerstreik für Gerechtigkeit

Mustafa Koçak wurde in der Türkei wegen Falschaussagen eines Kollaborateurs zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilt. Dagegen protestiert der 28-Jährige seit drei Monaten mit einem Hungerstreik. Seine Familie ruft zu Solidarität auf.

Mustafa Koçak ist nur eines von vielen Opfern des Kollaborateurs Berk Ercan. Der 28-Jährige wurde am 11. Juli vor einem Gericht in Istanbul zu einer erschwerten lebenslangen Haft plus 39 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, weil er als vermeintliches Mitglied der „Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front” (DHKP-C) versucht haben soll, die verfassungsmäßige Ordnung zu stürzen und die Tatwaffen für die Geiselnahme vom Istanbuler Justizpalast beschafft zu haben. Am 31. März 2015 hatten zwei DHKP-C-Aktivisten den Staatsanwalt Mehmet Selim Kiraz im Gerichtsgebäude in ihre Gewalt gebracht. Kiraz hatte im Fall des Todes des 14-jährigen Berkin Elvan ermittelt, der im Juni 2013 während der Gezi-Proteste in Istanbul von einer Tränengaskartusche der Polizei am Kopf getroffen wurde und nach monatelangem Koma im März 2014 verstarb. Die Geiselnehmer des Staatsanwalts hatten von den Behörden gefordert, sie sollten die Namen jener Polizisten veröffentlichen, die als Verantwortliche für den Tod des Jungen in Frage kommen. Nach rund neunstündigen Verhandlungen hatte die Polizei das Büro des Staatsanwalts gestürmt und die beiden Geiselnehmer erschossen. Kiraz wurde schwer verletzt und starb wenig später auf dem Weg ins Krankenhaus.

Keine Beweise, nur Schuldzuweisungen

Mustafa Koçak sitzt bereits seit zwei Jahren im Hochsicherheitsgefängnis Şakran in der Provinz Izmir. Im Verfahren gegen ihn gab es keine Beweise, sondern nur Schuldzuweisungen. Eine Prozesserklärung durfte er nicht abgeben, die er ohnehin nicht hatte vorbereiten können, da ihm im Gefängnis kein Stift verkauft worden war. Das Urteil gegen ihn begründete das Gericht mit den widersprüchlichen Aussagen des Kollaborateurs Berk Ercan, die fast zweieinhalb Jahre nach der Geiselnahme des Staatsanwalts zustande kamen. Der mittlerweile zur Polizei übergelaufene Ercan war in der Vergangenheit selbst Mitglied bei der DHKP-C. Im April 2015 wurde er im Rahmen von Ermittlungen gegen die Organisation in Istanbul verhaftet. Aufgrund der Aussagen des heute 26-Jährigen landeten bisher knapp 200 Menschen aus dem linken Spektrum im Gefängnis, darunter auch zahlreiche Rechtsanwält*innen des Istanbuler Rechtsbüros Halkın Hukuk Bürosu (HHB), die dem Verein progressiver Juristen (Çağdaş Hukukçular Derneği, ÇHD) angehören. Mustafa Koçak ist das mit der höchsten Haftstrafe belegte Opfer von Berk Ercan. Nach gültiger Rechtsprechung dauert in der Türkei eine erschwerte lebenslange Haft bis zum physischen Tod. Koçak soll also im Gefängnis sterben, weil sich ein Kollaborateur mit Falschaussagen Straffreiheit erhoffte.

Erst Hungerstreik, jetzt Todesfasten

Aus Protest gegen den unfairen Prozess begann Mustafa Koçak am 3. Juli einen Hungerstreik, den er gestern in ein Todesfasten umwandelte. Beistand erhält er von seinen Angehörigen und Anwält*innen. Alle Mitglieder seiner Familie beteiligen sich tageweise im Wechsel am Hungerstreik und wollen damit eine kritische Öffentlichkeit schaffen, die das Handeln der Behörden hinterfragt. Wir haben mit Ayşe Koçak, der Schwester von Mustafa Koçak, gesprochen.

Ayşe Koçak erfuhr am 23. September 2017 im Internet, dass ihr Bruder, der seinen Lebensunterhalt damals mit einer mobilen Bäckerei bestritt, festgenommen wurde. Seitdem sei das Leben der Familie nicht mehr das, was es einmal war. Weil die Ermittlungsakte im Fall von Mustafa Koçak nach dessen Festnahme unter Geheimhaltung gestellt wurde, konnte sein Rechtsbeistand damals zwei Tage lang nicht in Erfahrung bringen, weshalb er auf der Polizeiwache Vatan festgehalten wird. Später kam heraus, dass die Polizei von Mustafa Koçak verlangt hatte, Dissidenten zu belasten. „Er lehnte ab. Dafür wurde er bestraft“, sagt Ayşe Koçak.

Zwölf Tage Folter und Vergewaltigungsandrohungen

Zwölf Tage lang wurde Mustafa Koçak in Gewahrsam gefoltert, berichtet seine Schwester. „Er wurde gezwungen, vorgefertigte Aussagen zu unterzeichnen, doch er weigerte sich. Deshalb wurde er stundenlang verprügelt, über den Boden geschleift, mit Wasser begossen, eisiger Kälte und Dunkelheit ausgesetzt. Neben meinem Bruder habe ich noch zwei Schwestern. Eine von ihnen war zum Zeitpunkt von Mustafas Festnahme schwanger. Die Polizisten drohten ihm, uns zu vergewaltigen, sollte er nicht unterschreiben.“

Ungetragenes Hemd plötzlich Beweis

Während Mustafa Koçak auf der Polizeiwache Vatan gefoltert wurde, stürmten maskierte Mitglieder eines Sondereinsatzkommandos seine elterliche Wohnung im Stadtteil Esenyurt. Ein bei der Razzia beschlagnahmtes Hemd ihres Bruders wurde später im Prozess als Beweis herangezogen, erwähnt Ayşe Koçak. „Im Rahmen seiner erlogenen Aussagen hatte der Kollaborateur angegeben, dass es sich bei dem Hemd um ein Kleidungsstück von Şafak Yayla, einem der Geiselnehmer des Staatsanwalts, gehandelt habe. Das stimmt nicht. Meine ältere Schwester hatte das Hemd Mustafa zum Geburtstag geschenkt. Es war noch ungetragen. Im Übrigen wurde Şafak Yayla mit einer Körperlänge von etwa 1,85 Metern als Person von großer und stämmiger Gestalt beschrieben. Mein Bruder hingegen ist schmächtig und nur 1,60 Meter groß. Wie sollte sich der Geiselnehmer in dieses Hemd gezwängt haben? DNA-Spuren von Şafak Yayla wurden an dem Hemd ebenfalls nicht gefunden.“

Durch „Gewissensentscheidung“ zustande gekommenes Urteil

Nach 15 Tagen in Polizeigewahrsam ordnete ein Bereitschaftsgericht Untersuchungshaft gegen Mustafa Koçak an, zu seiner Verteidigung äußern durfte er sich nicht. Diese Rechtlosigkeit erstreckte sich auf den gesamten Prozess, der vor der 27. Schwurgerichtskammer Istanbul stattfand. Außer den Aussagen des Polizeizeugen Berk Ercan hat es keine tragfähigen Beweismittel gegeben, die den Anklagevorwurf stützen würden. Die Waffe, die Mustafa Koçak den Geiselnehmern beschafft haben soll, wurde einem ballistischen Gutachten nach nicht abgefeuert. Das Urteil gegen ihren Bruder kam durch eine Gewissensentscheidung des Gerichts zustande, erklärt Ayşe Koçak.

Widersprüchliche Aussagen vor Gericht

Koçak erinnert daran, dass Berk Ercan schwere Waffen bei sich trug, als er verhaftet wurde. Dennoch genieße er ein Leben in Freiheit. „Als er noch in Haft war, gab er bei einer Befragung an, von Mustafa höchstpersönlich erfahren zu haben, dass die bei der Geiselnahme benutzte Waffe von meinem Bruder organisiert worden sei. Bei der Verhandlung, an die Mustafa über ein Videoliveschaltungssystem eingebunden wurde - sein Gesicht war nicht unkenntlich gemacht worden – antwortete Berk Ercan auf die Frage, ob Mustafa eine Person sei, die etwas mit der Geiselnahme zu tun hatte, mit den Worten: ‚Darüber habe ich keine direkten Informationen‘. Schon bei der ersten Befragung als Polizeizeuge hatte Berk Ercan nichts zum Mord an dem Staatsanwalt oder irgendetwas über meinen Bruder gesagt.“

„Hört auf den Aufschrei von Mustafa“

Mustafa Koçak weigert sich seit mittlerweile fast drei Monaten, Nahrung zu sich zu nehmen. Mit seinem Hungerstreik protestiert er dagegen, dass sein Recht auf ein faires Verfahren verletzt wurde. Sein Rechtsbeistand ist gegen das Urteil der erschwerten lebenslangen Haft vor das Berufungsgericht gezogen. Das Verfahren ist noch anhängig.

Ayşe Koçak erzählt, von Tür zu Tür gezogen zu sein, um dem Aufschrei ihres Bruders Gehör zu verschaffen. Doch fast überall stand die Familie vor verschlossenen Türen. „Bis auf den HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu gab es niemanden, der uns zuhörte.”

Um Mustafa Koçak beizustehen, haben die inhaftierten Anwält*innen des Rechtsbüros HHB vom 15. bis 22. September einen einwöchigen Solidaritätshungerstreik durchgeführt. Unter ihnen befand sich auch der ÇHD-Vorsitzende Selçuk Kozağaçlı, dessen Verein sich bis zur Schließung per Staatsdekret im Zuge des Ausnahmezustands nach dem Putschversuch vom Sommer 2016 politischer Prozesse im gesamten Land annahm. Unter anderem vertrat Kozağaçlı Angehörige des 54-jährigen Metin Lokumcu, der 2011 bei Protesten gegen Recep Tayyip Erdoğans Wahlkampfveranstaltungen in der Schwarmeerregion in Hopa getötet wurde, als die Polizei Tränengas einsetzte. Außerdem engagierte sich Kozağaçlı im Fall von Berkin Elvan, dem Soma-Prozess und vertrat die Universitätsdozentin Nuriye Gülmen und den Lehrer Semih Özakça. Weil beide nach dem vereitelten Militärputsch 2016 aus dem Staatsdienst entlassen wurden, traten Gülmen und Özakça in einen Hungerstreik – und wurden verhaftet. Die Staatsanwaltschaft beschuldigte sie, der DHKP-C anzugehören.

Gegen Kozağaçlı verhängte ein Gericht im vergangenen März eine elfjährige Freiheitsstrafe. Der Vorwurf: Die Verteidigung von „Terroristen” und „Mitgliedschaft bei der DHKP-C”. Der Beweis: Ein sogenanntes Geständnis von Berk Ercan. Gleiches bildete auch die Grundlage für die Verhaftung von Gülmen und Özakça.

„Mein Bruder ist niemandes Sündenbock; Niemand hat das Recht, mit seinem Leben zu spielen“, sagt Ayşe Koçak. Sie fordert von der Öffentlichkeit, den Aufschrei ihres Bruders ernst zu nehmen.

Weiterer „Zeuge“ nimmt Aussage zurück

Ein weiterer sogenannter Zeuge in dem Fall gegen Koçak war Cavit Yılmaz. Er wurde 2017 ebenfalls im Zuge der breitangelegten DHKP-C-Operation der Istanbuler Polizei festgenommen und befand sich rund acht Monate in Untersuchungshaft. Ähnlich wie bei Mustafa Koçak verlangten die Sicherheitsbehörden von ihm, Dissidenten zu belasten. Yılmaz erklärte später, dass er irgendwann psychisch erschöpft gewesen sei und dem Druck von Polizei und Geheimdienst nicht mehr standhalten konnte. Also nannte er unter Folter Namen von Personen, die sich im Kulturverein Idil aufhielten oder an Presseerklärungen teilnahmen. Außerdem gab er an, von Mustafa Koçak erfahren zu haben, dass die Tatwaffe der Geiselnehmer des Staatsanwalts von einer Person namens Murat Canım beschafft wurde. Diese und alle weiteren Aussagen zog er später wieder zurück. Nach seiner Haftentlassung setzte sich Yılmaz nach Deutschland ab. Von hier aus schrieb er Mustafa Koçak einen Brief, in dem er sich bei ihm entschuldigte und detailliert schilderte, was ihm im Gefängnis widerfahren war. Als Beweismittel durfte der Brief im Prozess gegen den 28-Jährigen nicht verwendet werden.

„Derselbe Cavit Yılmaz zieht heute von einer türkischen Botschaft in Deutschland bis zur nächsten, und setzt sich für meinen Bruder ein. Mit seinen Aktionen fordert er die Freilassung meines Bruders”, sagt Ayşe Koçak abschließend.