Der stellvertretende Ko-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Tayip Temel, spricht im ANF-Interview über die Strategie der HDP zu den Wahlen am 14. Mai in der Türkei und ruft zur Unterstützung der Partei der Grünen Linken (YSP) auf. Als Begründung dafür, warum die HDP bzw. die Grüne Linkspartei keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten aufgestellt hat, sagt Temel in Bezug auf die daraus folgende Unterstützung des oppositionellen Kandidaten Kemal Kılıçdaroğlu (CHP): „Wir haben gesehen, dass wir mit Herrn Kılıçdaroğlu in Bezug auf grundlegende Prinzipien wie die demokratische Lösung der kurdischen Frage nicht uneins sind. Wir beharren auf unseren Prinzipien und gestalten unsere Praxis entsprechend.“ Der HDP-Politiker fordert „mutige Schritte“ zur Lösung der kurdischen Frage.
„Friede, Demokratisierung und Lösung der kurdischen Frage stehen im Mittelpunkt“
Die HDP hat ihren Schwerpunkt im Wahlkampf auf Themen im Zusammenhang mit der Demokratisierung des Landes gesetzt. Nun hat die HDP keine eigene Kandidatin oder einen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl aufgestellt. Wie ist hier der Zusammenhang?
Unsere Partei spielt mit dem, was sie tut oder nicht tut und was sie unterstützt oder nicht unterstützt, eine entscheidende Rolle für die Politik des Landes. Wir sind wahlentscheidend. Alle Augen sind auf uns gerichtet. In diesem Bewusstsein und auf der Grundlage unserer Verantwortung gegenüber unseren Völkern haben wir am 27. September 2021 in einer Erklärung unsere Grundsätze für die Politik des Landes bekannt gegeben. Wir haben den Grundsatz aufgestellt, dass wir diejenigen, die für Demokratie und Freiheit sind, nicht ablehnen und sogar unterstützen werden. Unsere Grundsätze sind in elf Punkten formuliert. Diese sind auch ein Aufruf. Wir haben eine Diskussion über die großen Probleme des Landes gefordert, insbesondere die kurdische Frage, auf der Grundlage dieser Prinzipien. Dieses Positionspapier haben wird als „Aufruf für Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden“ betitelt. Hinsichtlich der Präsidentschaftswahlen haben wir klargestellt, dass wir über diese Prinzipien und nicht über Namen diskutieren sollten. Bei den Gesprächen, die wir geführt haben, haben wir gesehen, dass wir mit Herrn Kılıçdaroğlu keine Meinungsverschiedenheiten über die Grundprinzipien unserer Erklärung wie starke Demokratie, unparteiische und unabhängige Justiz, Beendigung der kommunalen Zwangsverwaltung und eine demokratische Lösung der kurdischen Frage haben. Um es noch einmal zu betonen: Niemand, der für Demokratie und Freiheit eintritt, kann sich diesen Grundsätzen widersetzen. Sie sind für eine Gesellschaft so wichtig wie Brot und Wasser. Deshalb beharren wir auf unseren Grundsätzen und gestalten unsere Praxis entsprechend. Das Treffen, das wir mit Herrn Kılıçdaroğlu im Parlament hatten, fand auf dieser Grundlage statt.
„Prinzipien, nicht Namen sind entscheidend“
Was bedeutet es, in der ersten Phase keine Unterstützungsbekundung für einen Kandidaten abzugeben? Nach Angaben Ihrer Ko-Vorsitzenden wird der Name in den nächsten Tagen bekannt gegeben ...
Offen gesagt, befinden wir uns seit der Erklärung vom 27. September 2021 am selben Punkt. Unsere Politik und unsere Diskurse stehen im Einklang mit dieser Erklärung. Wie ich gerade gesagt habe, haben wir von Anfang an in Bezug auf die Präsidentschaftswahlen gesagt, dass für uns Prinzipien wichtig sind, nicht Namen. Wir hatten dies bereits damals erklärt. Heute sind wir weiterhin davon überzeugt. Unser Ziel ist es, dieses Ein-Mann-Regime, das das Land plagt, zu beenden. Wir haben hart daran gearbeitet, die dafür am besten geeigneten Wege und Methoden zu bestimmen. Die Frage der Nominierung von Kandidaten wurden in den autorisierten Gremien unserer Partei intensiv diskutiert. Wir haben die Meinungen unserer Basis und der Völker eingeholt. Zunächst war die Tendenz, einen Kandidaten zu nominieren, stärker ausgeprägt. Die Erdbeben vom 6. Februar veranlassten uns jedoch, unsere Einschätzungen zu revidieren. Infolge der Politik der AKP/MHP-Regierung, die auf Profit und Plünderung basiert, haben wir mehr als 50.000 Menschen verloren. Tausende sind erfroren, weil die starre zentralistische Verwaltung nicht reagiert hat und in den Erdbebengebieten tagelang nicht eingegriffen wurde. Wir haben mit großer Wut miterlebt, wie das Erdoğan-Regime die Menschen nach dem Erdbeben ihrem Schicksal überlassen hat. Die Menschen erheben zu Recht Einwände gegen das so genannte Präsidialsystem und die AKP/MHP-Regierung. Die Umstände haben sich geändert. Als Bündnis für Arbeit und Freiheit haben wir dies der Öffentlichkeit auf einer Pressekonferenz mitgeteilt. Die Tatsache, dass wir keine Kandidatin oder einen Kandidaten aufstellen, bedeutet nicht, dass wir unsere Wählerinnen und Wähler bei den Präsidentschaftswahlen entlassen oder die Wahlen boykottieren. Der Name kann zu gegebener Zeit bekannt gegeben werden.
„Entscheidung für getrennte Listung stellt ein Risiko dar“
Es gab ja innerhalb des Wahlbündnisses für Arbeit und Freiheit, dem auch Sie angehören, Debatten um die Frage, ob man überall auf gemeinsamen Listen oder ob man auch getrennt antreten könne. Die TIP und die EMEP haben durchgesetzt, dass sie getrennt aufgeführt werden. Was sind die Risiken in diesem Zusammenhang?
In der Tat wäre es die beste Methode im Sinne aller Unterdrückten und Werktätigen gewesen, bei den wichtigsten Wahlen der Geschichte mit einer einzigen Liste anzutreten. Die TIP und EMEP, die Teil des Bündnisses für Arbeit und Freiheit sind, hielten es jedoch für angebracht, mit ihren eigenen Parteilogos unter dem Dach des Bündnisses zu den Wahlen anzutreten. Dieses Ergebnis kam trotz der langen Verhandlungen in den gemeinsamen Sitzungen zustande. Zweifellos bringt diese Entscheidung Schwierigkeiten mit sich. Denn aufgrund des neuen Wahlrechts ist jede Partei des Bündnisses auf sich selbst angewiesen. Selbst wenn wir als Bündnis genügend Stimmen erreichen, um einen Abgeordneten in einer Provinz zu bekommen, werden wir leider keinen Abgeordneten bekommen können, da diese Stimmen auf die drei Parteien verteilt werden. Da wir an einigen Orten nicht mit einer eigenen Liste antreten, besteht außerdem die Gefahr, dass der Sitz, den wir dann nicht bekommen konnten, an eine andere Partei geht.
„Überall das Kreuz bei der Grünen Linkspartei machen“
Welche Maßnahmen wurden gegen dieses Risiko getroffen?
Die Menschen können beruhigt sein. Wir arbeiten mit großer Sorgfalt und bewerten alle Arten von Risiken. Es werden alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Es besteht kein Grund zur Sorge. Was zu tun ist, ist ganz einfach. Alles, was die Menschen tun müssen, ist, überall ein „Ja“ unter das Logo der Partei der Grünen Linken zu setzen. Wenn wir unseren Stempel überall dort setzen, wo wir den lilafarbenen Baumstamm der YSP sehen, gibt es kein Problem. Wenn wir die Grüne Linkspartei als Vertreterin der Unterdrückten und Werktätigen bei diesen wichtigen Wahlen am stärksten in das Parlament tragen, werden alle Machenschaften ins Leere laufen und alle Risiken beseitigt sein.
„Diese Wahlen sind von kritischer Bedeutung“
Es wird immer wieder gesagt, dass diese Wahlen einen Wendepunkt darstellen. Was unterscheidet diese Wahlen konkret von anderen?
Es mag wie ein Klischee klingen, aber diese Wahlen sind tatsächlich sehr, sehr kritisch. Wenn wir sagen, dass die Wahlen 2023 eine Zäsur sein werden, dann sagen wir das nicht, um die Menschen zu motivieren. Die Wahlen 2023 werden in der Tat schicksalhafte Wahlen für das Land sein. Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder wir stoppen den Faschismus, oder der Faschismus wird stärker werden und die Gesellschaft ersticken. Das ist kein Scherz, es gibt keinen anderen Weg. Aus diesem Grund werden die Wahlen am 14. Mai 2023 die kritischsten Wahlen der Geschichte sein. Wissen Sie, auf den Straßen, zum Beispiel, wenn wir den Bosporus überqueren, sehen wir manchmal ein Schild mit der Aufschrift „Letzte Ausfahrt vor der Brücke“. Die Wahlen am 14. Mai sind genau so. Es ist die letzte Ausfahrt vor der Brücke. Entweder wir nehmen den Weg in den Faschismus oder wir werden uns für die Demokratie und die Freiheiten entscheiden. So einfach ist die Sache. Deshalb denken wir, offen gesagt, nicht, dass die Wahlen 2023 Wahlen sein werden, bei denen alle ihre eigene Macht messen und eine Show abziehen. Einen solchen Luxus können wir uns nicht leisten. Wenn der Faschismus gewinnt, wird es zu spät sein.
Wie würde sich die Präsenz der Grünen Linkspartei im Parlament mit hundert oder mehr Abgeordneten auswirken?
Sowohl im Präsidialsystem als auch im parlamentarischen System spielt das Parlament eine wichtige Rolle im Gesetzgebungsprozess. Wenn die Grüne Linkspartei mit hundert Abgeordneten ins Parlament einzieht, werden die Unterdrückten, die Marginalisierten und diejenigen, deren Rechte und Gesetze in der türkischen Politik nicht geschützt sind, einen entscheidenden Einfluss darauf haben, welche Gesetze wie im Parlament gemacht werden, und vor allem werden sie die neue Regierung mitbestimmen. Die gesetzlichen Regelungen der beiden hegemonialen Blöcke, die Kapital, Profit und Zerstörung in den Vordergrund stellen, werden verhindert werden. Mit anderen Worten, die Wahl von hundert oder mehr Abgeordneten der Grünen Linkspartei wird eine Garantie für die Verteidigung der Gesellschaft nicht nur gegen eine Partei, sondern gegen beide Blöcke sein.
„Wir bestehen auf dem dritten Weg“
Ihre Partei stellt insbesondere das Ende des aktuellen Regimes in den Mittelpunkt. Das Programm für die Zeit danach ist in den Hintergrund getreten. Was können Sie zur Perspektive sagen?
Am Vorabend des zweiten Jahrhunderts der Republik treten wir in einen Wahlkampf ein, in dem wir einen historischen Showdown der Blöcke innerhalb des Systems erleben werden. Als diejenigen, die in diesem Land ausgegrenzt und marginalisiert sind, bestehen wir auf dem dritten Weg. Aus diesem Grund betrachten wir die bevorstehenden Wahlen nicht nur auf eine auf ein Kräftemessen der Blöcke innerhalb des Systems limitierten Art und Weise. Wir haben eine Reihe von Zielen vorgelegt, um den dritten Weg zu organisieren und zu stärken und sicherzustellen, dass er in der neuen Periode entscheidend sein wird. In diesem Zusammenhang vertreten wir eine Linie, die sich nicht damit begnügt, die Regierung zu beseitigen und eine neue zu schaffen, sondern auch die bestehende Ordnung zu verändern und diese Veränderung nachhaltig zu machen.
„Die Opposition darf nicht in Angst vor der Regierung erstarren“
In der Opposition herrscht Zuversicht, dass die AKP/MHP-Regierung besiegt werden wird, und in regierungsfreundlichen Kreisen ist man besorgt ...
Zunächst einmal sollte sich die Opposition nicht von dem Klima der Unruhe und Angst einfangen lassen, das die Regierung im Hinblick auf eine Lösung der historischen Probleme der Türkei schaffen will. Mutige Äußerungen zu historischen Problemen, insbesondere zur kurdischen Frage, werden sowohl das psychologische Klima zerschlagen, das die Regierung schaffen will, als auch diejenigen stoppen, die von der gesellschaftlichen Polarisierung profitieren.
In diesem Zusammenhang lässt sich feststellen, dass die Gesellschaft den beiden hegemonialen Blöcken innerhalb des Systems weit voraus ist. Das Ziel, die Führungsrolle der Gesellschaft zu politisieren und sie mit der Perspektive der demokratischen Republik zusammenzubringen, wird sowohl die Türen zum Sieg öffnen, als auch ein Gegengift gegen konformistische Hindernisse wie Selbstgefälligkeit sein.
„Die Regierung betrachtet jedes Mittel, um zu gewinnen, als legitim“
Es gab bei vergangenen Wahlen immer wieder Provokationen und Betrug. Wie sehen Sie diese Gefahr im aktuellen Wahlprozess?
Die AKP/MHP-Regierung wird natürlich alle möglichen Taktiken und Tricks anwenden, um die Wahlen zu gewinnen. Wir haben es mit einer kriminellen Regierung zu tun, die keine moralischen Prinzipien besitzt, die Erfahrung mit Diebstahl hat und die jede Möglichkeit, zu gewinnen, als legitim betrachtet. Das wissen wir, aber wenn wir uns deswegen in eine passive Position begeben, werden wir verlieren. Man sagt, dass Wahlen an der Wahlurne gewonnen werden. Die Sicherheit der Wahlurnen wird bei diesen Wahlen sehr wichtig sein. Wir haben Vorbereitungen getroffen, um sicherzustellen, dass keine einzige Stimme gestohlen wird, aber die Opposition muss zusammenarbeiten und sich beim Schutz der Wahlurnen zusammenschließen. Hätten die Menschen bei den letzten Wahlen in Istanbul die Wahlurnen nicht geschützt, hätte man den Betrug wahrscheinlich vertuscht. Um dies zu verhindern, müssen wir uns um die Wahlurnen kümmern. Wir sollten nicht selbstgefällig sein, bis die letzte Wahlurne geöffnet wird, und wir dürfen nicht zulassen, dass die Stimmen gestohlen werden. Dafür sind wir zu allen Partnerschaften bereit.
Wie wird das Nominierungsverfahren für Kandidat:innen ablaufen?
Wie in jeder Legislaturperiode wird natürlich auch in dieser Wahlperiode berücksichtigt, was das Volk will und wen es im Parlament sehen möchte. Da sich diese Wahlen jedoch von den vorherigen unterscheiden, sollten die Kandidierenden Personen sein, die den Willen des Volkes im Parlament vertreten und seine Rechte verteidigen können. Wir wollen, dass sie so weit wie möglich aus dem Volk kommen. Neben Vertreter:innen der Völker, Konfessionen und Kulturen sollten auch Arbeiter:innen, Beamt:innen, Rentner:innen, Landwirt:innen und Studierende in das Parlament einziehen und die Rechte des Segments, dem sie angehören, im Parlament verteidigen können. Darauf achten die Kommissionen bei der Nominierung mit größter Aufmerksamkeit und Sorgfalt.
„Wir sind die Kraft des Wandels“
Es sind anderthalb Monate bis zur Wahl. Nun ist es wichtig die Grüne Linkspartei bekannt zu machen. Haben Sie entsprechende Appelle an die Wähler:innen?
Wir treten mit der Partei der Grünen Linken zu den Wahlen an. Das Logo der Grünen Linkspartei und der HDP sind ähnlich. Das ist ein großer Vorteil für uns. Für Analphabeten ist es wichtig, dass das Logo ähnlich ist. Darüber hinaus kommen wir aus einer Tradition, in der jede kleinste Aktivität entscheidend ist. Wir werden jedes Haus besuchen und die Grünen Linkspartei vorstellen und erklären. Das Logo der Grünen Linkspartei sieht aus wie ein Baum und ein Mensch. Es symbolisiert die Vergangenheit durch die Wurzeln, die Gegenwart durch seinen Stamm und die Zukunft mit seinen Ästen. Es ist genau das Logo, das zu unserem Paradigma passt.
Am 30. März wird das Wahlprogramm bekannt gegeben, der Wahlslogan und das Wahllied vorgestellt. Können Sie dazu etwas sagen?
Wir werden eine Kampagne führen, die den Anspruch des Kampfes, seine Überzeugung und seine Grundsätze von der Vergangenheit bis in die Zukunft trägt. Wir werden die Botschaft vermitteln, dass wir unsere Völker nicht alternativlos gegen alle Arten von politischen Verschwörungen zurücklassen werden, dass wir vor einer großen Herausforderung stehen und dass wir die Kraft des Wandels sind. Wir werden den aufregendsten und vielversprechendsten Wahlkampf aller Zeiten führen. Wir sind voller Enthusiasmus und in großer Begeisterung. Trotz der Repression werden wir die Botschaft vermitteln, dass wir hier sind und gemeinsam etwas verändern werden. Und das werden wir definitiv erreichen.