Während die Menschen in der Türkei weiterhin mit den Folgen der Erdbebenkatastrophe zu kämpfen haben, finden am 14. Mai Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Für die Regierungskoalition AKP/MHP tritt erneut Recep Tayyip Erdoğan an. Die Nationale Allianz, ein Zusammenschluss von sechs Parteien, einigte sich auf die Kandidatur des CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu. Die Regierung zieht jedes Mittel in Betracht, um die Wahlen zu gewinnen. Der Demokratischen Partei der Völker (HDP), die sich mit weiteren linken Parteien im Bündnis für Arbeit und Freiheit zusammengeschlossen hat, droht noch vor den Wahlen ein Verbot.
Der Journalist Erkan Gülbahçe hat für die Tageszeitung Yeni Özgür Politika mit der stellvertretenden HDP-Fraktionsvorsitzenden Meral Danış Beştaş in Brüssel über die Haltung der Partei hinsichtlich der Wahlen und der möglichen Schließung gesprochen. Wir veröffentlichen einen Auszug aus dem Interview in deutscher Übersetzung.
Zwischen der CHP und der IYI-Partei kam es in der Nationalen Allianz wegen eines gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten zu einer Krise, aber letztendlich wurde Kemal Kılıçdaroğlu als Kandidat aufgestellt. Wie wird sich die Nominierung von Kılıçdaroğlu auf die Wahlen auswirken?
Das Hauptthema in der Türkei sind im Moment die Wahlen. Die Gesellschaft in der Türkei mit ihrer türkischen, kurdischen, alevitischen, sunnitischen Bevölkerung und den Frauen und der Jugend wartet seit langem auf das Jahr 2023. Es findet ein großer Kampf statt und es gibt die Entschlossenheit, die Regierung abzusetzen und 2023 eine demokratische Republik aufzubauen. Als HDP haben wir immer für vorgezogene Wahlen plädiert, um das seit drei Jahren herrschende Chaos hinter uns zu lassen. Was jetzt geschieht, sind jedoch keine vorgezogenen Wahlen, sondern Wahlen zur rechten Zeit. Diese Wahl wird das Gleichgewicht verändern. Es gibt die Nationale Allianz, unser Bündnis für Arbeit und Freiheit und die regierende Volksallianz. Im Moment sehen wir, dass die Unterstützung der Bevölkerung für die Oppositionsbündnisse groß ist. Die Parteien unseres Bündnisses diskutieren jetzt in ihren Entscheidungsgremien über die neuesten Entwicklungen. Dann werden wir als Bündnis für Arbeit und Freiheit darüber diskutieren und daraus eine Haltung entwickeln.
Welches Verhältnis haben Sie als Bündnis für Arbeit und Freiheit zur Nationalen Allianz? Hat man Sie gebeten, Kılıçdaroğlu zu unterstützen?
Kılıçdaroğlu sollte natürlich auf alle Parteien zugehen und auch uns besuchen. Er will gewählt werden und braucht auch unsere Stimmen. Als Bündnis für Arbeit und Freiheit haben wir jedoch keine offiziellen Treffen mit der Nationalen Allianz gehabt. Wir haben jedoch mit Ausnahme der IYI-Partei Gespräche mit allen Parteien der Nationalen Allianz geführt. Es waren sehr positive Treffen, auf denen ein Meinungsaustausch stattgefunden hat. Natürlich sitzen wir jetzt nicht auf unseren Plätzen und warten darauf, wer uns besuchen wird. Wir arbeiten mit all unserer Kraft weiter. Wie wir in unserem im September 2021 veröffentlichten Elf-Punkte-Fahrplan erklärt haben, sind wir einer gemeinsamen Präsidentschaftskandidatur nicht abgeneigt. Unsere Tür ist offen.
Wir befinden uns in einem großen Kampf, um möglichst viele Abgeordneten ins Parlament zu entsenden. Hinsichtlich der Aufstellung einer Kandidatin oder eines Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen geht es uns nicht um Persönlichkeiten, sondern vielmehr um Prinzipien. Wir haben nicht über Personen diskutiert, sondern über die Verwirklichung dieser Prinzipien. Das wichtigste Problem in der Türkei ist die kurdische Frage. Wenn 25 Prozent der Menschen in einem Land nicht frei sind, wenn sie immer noch keine Bildung in ihrer Muttersprache erhalten und nicht überall frei in ihrer eigenen Sprache sprechen können, wenn Kurdinnen und Kurden aufgrund ihrer Identität angefeindet werden, wenn Rassismus gefördert wird - das jüngste Beispiel ist das Spiel zwischen Bursaspor und Amedspor -, wenn die Diskriminierung also sehr weit fortgeschritten ist, kann man in diesem Land nicht von Demokratie sprechen.
Eines unserer Prinzipien ist es, eine Türkei aufzubauen, in der alle mit ihrer eigenen Identität, ihrem Geschlecht und ihren Gedanken leben können. Hier sind die Gleichstellung der Frauen, die Schaffung von Gerechtigkeit und die Gewaltenteilung wichtig. Derzeit sind Legislative, Exekutive und Judikative Erdoğan unterstellt. Es herrscht also ein Ein-Mann-Regime, und dieses System muss geändert werden. Wenn die Nationale Allianz auf uns zukommt, werden natürlich alle diese Forderungen auf dem Tisch liegen. Ob wir einen Kompromiss finden oder uns einigen können, werden wir nach dem Treffen in aller Transparenz öffentlich machen.
Wie weit sind Ihre Bemühungen um die Kandidatenaufstellung für das Bündnis für Arbeit und Freiheit gediehen, besteht die Möglichkeit eines Konsenses über die Kandidatur von Kılıçdaroğlu?
Wie wir vor dem Erdbeben vom 6. Februar erklärt haben, waren wir entschlossen, mit einem eigenen Kandidaten in die Wahlen zu gehen. Wir hatten viele Vorschläge diskutiert und waren an dem Punkt angelangt, unseren Kandidaten zu bestimmen. Wäre diese große Katastrophe nicht passiert, hätten wir den Namen bereits bekannt gegeben. Durch das Erdbeben haben wir jedoch unsere gesamte Arbeit auf die betroffene Region konzentriert und die Wahlkoordinationszentren, die wir in allen Provinzen und Bezirken eingerichtet haben, in Krisen- und Koordinationszentren für die Bewältigung der Folgen des Erdbebens umgewandelt. Die Türkei erlebte ihre größte Katastrophe und 100.000 Menschen haben ihr Leben verloren. Die offiziellen Zahlen sind nicht korrekt. Ich bin in alle Erdbebengebiete gereist und habe mich in jeder Region einige Tage aufgehalten. Es war ein riesiger Trümmerhaufen und die menschlichen Werte wurden unter diesem Trümmerhaufen begraben. Insbesondere die Ereignisse nach dem Erdbeben, die Kandidatenaufstellung durch die Nationale Allianz und andere Gespräche haben uns gezwungen, unsere Entscheidung zu diskutieren und neu zu bewerten. Im Zusammenhang mit dem Erdbeben und den Entwicklungen danach diskutieren wir sowohl innerhalb unserer eigenen Institutionen als auch als Bündnis für Arbeit und Freiheit, ob wir eine Kandidatin oder einen Kandidaten aufstellen sollen oder nicht.
Ihre Verteidigung im Verbotsverfahren der HDP wurde auf den 11. April verschoben. Wie interpretieren Sie diese Vertagung?
Wir haben diese Nachricht gerade erst erhalten. Der Termin liegt vor den Wahlen und die Möglichkeit, vor den Wahlen geschlossen zu werden, besteht weiterhin. Ich kann sagen, dass wir es mit einer politischen Haltung zu tun haben. Es gibt keine Rechtfertigung für die Schließung der HDP. Eine Klage, die auf Antrag von Devlet Bahçeli eingereicht wurde, und die Aussagen von Bahçeli und dem Generalstaatsanwalt des Kassationsgerichts während dieser Klage bestätigen unsere Ansicht hundertprozentig, dass es sich um ein politisches Verfahren handelt. In diesem Land sind bereits viele Parteien verboten worden. Da es nicht um eine juristische Prozedur geht, kann politisch alles passieren, denn es werden politische Entscheidungen getroffen. Je nachdem, was die herrschende Macht will, wird ein entsprechendes Urteil gefällt. Unsere Finanzhilfen wurden mit einer völlig unfairen und putschartigen Entscheidung blockiert. Es ist gut, dass diese Blockadeentscheidung auf unseren Einspruch hin aufgehoben wurde. Wir sind die drittgrößte Partei und haben eine sehr starke Basis. Als Bündnis für Arbeit und Freiheit streben wir bei diesen Wahlen 20 Prozent an. Seit 2015 haben wir dank unserer Politik und Entschlossenheit als HDP die Unterstützung nicht nur des kurdischen Volkes, sondern auch der in der Türkei lebenden Völker gewonnen.
Als eine der Sprecherinnen der Partei möchte ich feststellen, dass wir in jeder Region auf großes Interesse stoßen. In allen Provinzen der Türkei gibt es ein sehr großes Interesse. Deshalb muss das Schließungsverfahren gegen die HDP sofort fallen gelassen werden. Unsere Partei kann auch am 11. Mai oder sogar am 13. Mai geschlossen werden. In der Verfassung ist keine Frist für eine Entscheidung innerhalb eines bestimmten Zeitraums festgelegt. Sie können also entscheiden, wann sie wollen. Es hängt ganz vom Ermessen des Präsidenten und der Mitglieder des Verfassungsgerichts ab. Daher kann ich nichts Definitives sagen, aber ich kann ganz klar sagen, dass es keine Rechtfertigung für die Schließung gibt. Wenn die HDP verboten wird, sollte dies als Versuch gewertet werden, die demokratische Politik zu zerstören.
Wie werden die Wahlen in den Erdbebengebieten organisiert?
Der Hohe Wahlausschuss arbeitet daran, wie die Wahlen organisiert werden sollen, indem er Delegationen in die Erdbebengebiete entsendet. Auf der Grundlage ihrer Analysen werden sie eine Entscheidung treffen. In Hatay, Maraş, Adıyaman und Malatya sind 50 Prozent der Bevölkerung abgewandert. Selbst in Diyarbakır gibt es eine große Abwanderung, viele Menschen sind in ihre Dörfer zurückgekehrt. Der Wahlausschuss hat bisher noch keine offizielle Entscheidung getroffen, aber hinter den Kulissen heißt es, dass die Zahl der Abgeordneten für die vom Erdbeben betroffenen Provinzen nicht verringert wird. Höchstwahrscheinlich können sich die Erdbebenopfer in den Provinzen registrieren lassen, in die sie gegangen sind. Das Wahlrecht kann ihnen nicht entzogen werden. Auch in den Erdbebengebieten werden Wahlurnen aufgestellt, und wer möchte, kann dort wählen gehen. In der nächsten Woche oder den nächsten zehn Tagen wird man Klarheit darüber haben.
Auch in Europa wird es Wahlurnen geben. Welchen Appell möchten Sie an die Wahlberechtigten in Europa richten?
Unsere Botschaft an die Menschen in Europa lautet wie folgt: Der Grund, warum Ihr hier lebt, ist, dass Ihr in der Türkei keine Möglichkeit zum Leben findet. Es gibt keine Freiheit. Es mangelt an wirtschaftlichen Möglichkeiten. Am wichtigsten ist, dass Ihr aufgrund Eurer kurdischen Identität hierher kommen musstet. Ihr seid wegen der ständigen Angriffe hierher gekommen. Jetzt müssen wir Hand in Hand zusammenarbeiten, um diese Regierung abzusetzen. Jede einzelne Stimme wird die Zukunft mitbestimmen. Ihr müsst im Wahlkampf noch mehr arbeiten als die Menschen in der Türkei, denn es gibt hier keine AKP/MHP-Regierung, die Euch daran hindert. Geht zur Wahl und überzeugt alle Menschen in Eurem Umfeld davon, um in ein freies Land zurückzukehren und die Regierung und den Status quo ändern zu können.