HDP-Bericht: Vier Millionen Wählern die Stimme geraubt

Die HDP hat einen Bericht über die Folgen der Zwangsverwaltung von Kommunen in der Türkei veröffentlicht. Die kommunalpolitische Sprecherin Hediye Karaaslan erklärte in Ankara: „In 48 Städten und Gemeinden wurden 4.356.819 Wählerstimmen geraubt.“

Der Ausschuss der Demokratischen Partei der Völker (HDP) für Kommunalverwaltungen hat auf einer Pressekonferenz in der HDP-Zentrale in Ankara einen Bericht über die Folgen der Zwangsverwaltung von Kommunen in Nordkurdistan veröffentlicht. Die Ko-Sprecher*innen des Ausschusses, Hediye Karaaslan und Salim Kaplan, stellten die Ergebnisse des unter dem Titel „Raub des politischen Willens und Realitäten der Zwangsverwaltung“ erschienenen Berichts vor.

Karaaslan erklärte: „Wie Sie wissen, betreiben die Regierung und das Innenministerium seit einiger Zeit Antipropaganda gegen unsere Partei, unsere Ko-Bürgermeister*innen und unsere Arbeit in den Kommunalverwaltungen. Diese Antipropaganda dauert seit der ersten Ernennung eines Zwangsverwalters im Jahr 2016 bis heute an. Jeden Tag sind wir mit neuen Realitätsverzerrungen konfrontiert.“ Laut Karaaslan hat das Innenministerium eine Broschüre herausgebracht, um die Kommunalverwaltungen der HDP zu diskreditieren. Die HDP wolle mit ihrem Bericht die Realität gegenüber der Diffamierungsbroschüre darstellen.

Das System der Zwangsverwaltung ist zusammengebrochen“

Weiter erklärte Karaaslan: „Das System der Zwangsverwaltung ist am Ende. Es ist in den Augen der Bevölkerung und der Gesellschaft moralisch gescheitert. Die Zwangsverwalter, die nichts weiter als mit Vollmachten des Ministeriums ausgestattete Beamte sind, versuchen sich unter dem Schlagwort ‚Dienstleistungen‘ zu legitimieren. Sie sind jedoch in heller Aufregung, denn jeden Tag kommen neue Korruptionsskandale und ihre gegen die Bevölkerung gerichtete Politik an die Öffentlichkeit. Sie sollen wissen, dass wir weder die Legitimierung des Raubs des politischen Willens noch die Verdrehung der Realität zulassen werden.“

Zwangsverwaltung und Inhaftierungen“

Karaaslan berichtete, dass die aktuelle Welle der Zwangsverwaltungen am 19. August 2019 begonnen habe. Dazu führte sie aus: „48 Gemeinden, darunter drei Metropolregionen, fünf Provinzen und 33 Distrikte, wurden unter Zwangsverwaltung gestellt. 72 unserer Bürgermeisterinnen und Bürgermeister wurden festgenommen und 37 von ihnen, darunter 19 Frauen, wurden inhaftiert. Es befinden sich immer noch 15 unserer Bürgermeisterinnen und Bürgermeister im Gefängnis. Sieben unserer Bürgermeisterinnen und Bürgermeister wurden unter Hausarrest gestellt, sechs von ihnen sind seit zehn Monaten im Hausarrest. Die größte Usurpation durch das Regime fand in den Stadträten statt. 807 unserer Stadträte sind ihrer Aufgaben enthoben worden. Die Zwangsverwalter haben die Stadträte faktisch geschlossen und dem Volk die Möglichkeit genommen, sich selbst zu regieren.“

Karaaslan betont, dass damit der Wille von 4.356.819 Wählerinnen und Wählern in 48 Gemeinden usurpiert wurde: „Wir sehen, dass sich das Regime wie nie zuvor gegen die Errungenschaften der Frauen und die Doppelspitze richtet. Die Errungenschaften von Frauen sind durch die Zwangsverwalter ausgelöscht worden. Was sie nicht vernichten konnten, versuchen sie ihren Wertmaßstäben entsprechend umzugestalten. Es wird versucht, die lokale Selbstbestimmung von Frauen, die Beteiligung von Frauen an der Lokalpolitik und insbesondere das Modell der genderparitätischen Doppelspitze zu kriminalisieren und zu vernichten.

Eintreten für den Ko-Vorsitz“

Das Modell der Doppelspitze entspricht der Identität einer kollektiven, demokratischen Selbstverwaltung und ist die Grundlage, um gemeinsame Entscheidungen zu treffen. Wir haben das Modell nicht heimlich implementiert. Die zuständigen Gremien der Partei hatten den entsprechenden Organen angekündigt, dass wir bei den Kommunalwahlen 2014 und 2019 mit Ko-Bürgermeisterkandidat*innen antreten werden. Unsere gesamte Presse- und Öffentlichkeitsarbeit wurden unter Berücksichtigung dieses Modells durchgeführt. Während dieses Vorgangs wurden wir von den Behörden nicht verwarnt.

Wir ziehen die Legitimität unserer Praxis in erster Linie aus der Gesellschaft. Die Gesellschaft hat die Einführung des Systems der Ko-Vorsitzenden 2014 bestätigt. Weitere Legitimität erhalten wir durch die Verfassung, die Gesetze und internationale Konventionen. Unser System der Doppelspitze wird in dieser Legislaturperiode vom Ministerium ernsthaft angegriffen. Das Modell ist Gegenstand von Anklagen. Wir möchten jedoch darauf hinweisen, dass weder die Beamten des Ministeriums noch die Justiz bisher irgendeinen Straftatbestand feststellen konnten. 90 Prozent der Kommunalverwaltungen, in denen wir Frauen als Bürgermeisterkandidatinnen aufgestellt hatten, wurden von ihnen gewonnen. Dies zeigt den enormen Erfolg und die Entwicklung durch den Frauenkampf. Auch nach offiziellen Kriterien wird dies deutlich. In 55 Prozent der Kommunalverwaltungen, die von der HDP gewonnen wurden, waren Frauen als Ko-Bürgermeisterinnen aufgestellt. Selbst die Partei mit den nächstmeisten Frauen nähert sich bei weiten nicht einmal 50 Prozent, sondern liegt bei 20 Prozent. Deshalb sagen wir, dass wir auf dem Modell der Doppelspitze bestehen, denn es ist unverbrüchlich mit unserem Kampf für ein freies und gleichberechtigtes Leben verbunden.“

Zwangsverwalter eingesetzt – Frauen entlassen“

Karaaslan berichtete weiter, dass das Innenministerium in seiner Propagandabroschüre behauptet, es habe 194 Frauenzentren eröffnet. Sie führte dazu aus: „Wir haben lange gesucht und in der Bevölkerung nachgefragt, aber wir konnten diese angeblich eröffneten Frauenzentren nicht finden. Wir fragen uns daher, wann und mit wem sie eröffnet wurden.“

Stattdessen seien Mitarbeiterinnen der Kommunalverwaltungen entlassen worden, so Karaaslan: „In Wan wurden nach der Einsetzung des Zwangsverwalters elf Mitarbeiterinnen entlassen. Als in Mêrdîn (Mardin) ein Zwangsverwalter eingesetzt wurde, ist die Vorsitzende des Büros für Frauenpolitik suspendiert worden. In Mêrdîn, Êlih (Batman) und Sûr wurden an die Spitze der städtischen Abteilungen für Frauenpolitik Männer eingesetzt. In Mêrdîn wurde die Hotline gegen häusliche Gewalt geschlossen. In Qêrqelî (Özalp) wurde das Frauenkulturzentrum geschlossen, in Bêgirî (Muradiye) die Ayşe-Şan-Frauenbibliothek und das Frauenhaus. In Sûr wurde ein Männerkaffee im Amida-Frauenzentrum eingerichtet. All dies sind nur einige Beispiele. In unserem Bericht finden Sie weitere Details über Angriffe auf die Errungenschaften der Frauen.“

Kriminalisierung von Straßennamen

In seiner Broschüre beschuldigt das Innenministerium die HDP-geführten Rathäuser, Straßen und Plätze nach „Straftätern“ zu benennen. Karaaslan erklärte dazu: „Der Name von Dr. Ilhan Diken, nach dem eine Straße benannt wurde, wird als der eines Straftäters aufgeführt. Aber war Dr. Ilham Diken? Er war Vorsitzender der Ärztekammer von Amed und sogar einmal Bürgermeister der Stadt. Er starb an einem Herzinfarkt. Wir fragen uns, welche Art von Verbrecher Dr. Ilhan Diken sein soll. In der Gemeinde Qosêr (Kızıltepe) ist die Benennung eines Parks nach Leyla Qasim zur Straftat erklärt worden. Sie war eine kurdische Frau, die gegen Saddams System kämpfte und 1974 hingerichtet wurde. Wie kann aus ihr eine Verbrecherin gemacht werden? Das Ministerium betrachtet es als Straftat, einen Park nach Mehmet Sincar zu benennen. Mehmet Sincar fiel einem Mord ‚unbekannter Täter‘ zum Opfer. Aber dem Ministerium entgeht noch ein weiteres Detail. Es weiß nicht, dass die Entscheidungen, die wir im Stadtrat getroffen haben, von der Verwaltung bestätigt wurden. Sie wurden vom Gouverneur bestätigt. Wenn also ein Straftatbestand vorliegt, dann müssen auch sie vor Gericht gestellt werden. Sind sich die Beamten des Ministeriums dessen nicht bewusst oder soll hier einfach Stimmung gemacht werden?“

Die Zwangsverwaltung wird auf euch zurückfallen“

Hediye Karaaslan beendete ihren Vortrag mit den Worten: „Die Regierungspartei hatte bei den Wahlen 2014 in 67,2 Prozent der Kommunalverwaltungen das Wort. Mit der Einsetzung der Zwangsverwalter wurde ein deutlicher Rückgang verzeichnet. 2019 stellte die Regierungspartei nur noch in 39 Prozent der Kommunalverwaltungen die Bürgermeister. Das ist ein Verlust von fast 40 Prozent. Wie man sieht, wird das Zwangverwaltersystem von der Bevölkerung an den Wahlurnen abgestraft. Das System der Zwangsverwaltung wird früher oder später auf das System zurückfallen.“