Fast täglich kommen neue Fälle von Folter und Polizeigewalt in der Türkei und Nordkurdistan ans Licht. Ein Repressionsschlag gegen die Opposition folgt auf den nächsten, HDP-regierte Städte werden unter Zwangsverwaltung gestellt und Abgeordnete ihres Mandats beraubt. Wir haben mit der Parlamentarierin Tülay Hatimoğulları über die aktuellen Entwicklungen gesprochen. Die stellvertretende HDP-Vorsitzende und Verantwortliche der Kommission für Völker und Glaubensgemeinschaften sagt, das AKP-Regime sei fest entschlossen, sich nachhaltig festzusetzen. „Die Repression gegen die HDP und ihre Teilorganisationen ist sehr ernst und dauert schon lange an. Einerseits werden Zwangsverwalter für die HDP-geführten Kommunen ernannt, andererseits wird alles daran gesetzt, um auch die Stadtverwaltungen aller anderen Parteien auszuschalten. Dahinter steht die Absicht, die Kommunalpolitik, die zu den demokratischen Mindeststandards gehört, aufzuheben und alle Macht auf das Regime zu konzentrieren und zu zentralisieren. Wir können gerade beobachten, wie durch polarisierende und spaltende Diskurse die Spannung in der Gesellschaft zugespitzt wird.“
Hass und Wut auf Regierung wachsen
Im Mai ereigneten sich zwei rassistisch motivierte Angriff auf armenische Kirchen in der Millionenmetropole Istanbul. Zudem wurde bekannt, dass ein Großteil der Ende 2017 vom Gefallenenfriedhof Garzan in Bedlîs (Bitlis) exhumierten Leichen von Angehörigen der kurdischen Befreiungsbewegung auf einem Friedhof bei Istanbul in Plastikkisten unter einem Gehweg begraben wurden. Hatimoğulları erklärt zu diesen Vorfällen: „Es wurde nicht nur das Kreuz von einer armenischen Kirche in Kuzguncuk abgerissen. Gleichzeitig wurden an einer anderen Kirche die Türen in Brand gesteckt und zerstört. Angriffe auf alevitische Cem-Häuser gab es schon immer, vor kurzem fand erneut ein solcher Angriff statt.“ Kurz vor der Überführung der Leiche des an den Folgen eines Hungerstreiks verstorbenen Grup Yorum-Musikers Ibrahim Gökçek aus Istanbul nach Kayseri zerstörte die Polizei die Türen des alevitischen Gebetshauses Gazi mit Rammböcken, verwüstete den Innenraum und schoss Gas hinein. „Die Angriffe auf Friedhöfe sind ebenfalls sehr ernst. Es wird versucht, die Geschichte des kurdischen Volkes, seine Gefühle und die immateriellen Werte, die es zusammenhalten, zu zerstören. Diese Zerstörung steigert die Wut und den Hass des kurdischen Volks auf die Regierung, auf die Zentralautorität”, erklärt die 43-jährige Politikerin, die einer alevitisch-arabischen Familie aus Antakya in Hatay entstammt.
Eine unbegreifliche Grausamkeit
Dass über 260 Leichen gewaltsam aus ihrer Ruhestätte verschleppt und ohne das Wissen der Familien unter einem Bürgersteig begraben wurden, damit auf ihnen „herumgetrampelt“ wird, sei eine „unbegreifliche Grausamkeit“, sagt Hatimoğulları. „Respekt vor den Toten gibt es in allen Gesellschaften. In unseren Weltanschauungen wird dem Respekt vor den Toten höchste Bedeutung beigemessen. Der Staat nimmt sich also etwas, das dem kurdischen Volk oder eigentlich allen Gesellschaften sehr viel bedeutet, und verscharrt es unter einem Gehweg. Das heißt nichts anderes als, dass er dem kurdischen Volk nicht einmal einen Grabstein zubilligt.“
Der Faschismus hat sämtliche Ressourcen mobilisiert
Hatimoğulları ergänzt: „Wir wissen, dass dieses System, dieses Regime den größtmöglichen Druck auf alle Teile der Gesellschaft ausübt, um seine eigene Existenz zu verlängern. Der Faschismus will sich so nachhaltig im Land festsetzen und alles durchdringen. Dafür hat er alle Werkzeuge des Staates mobilisiert. Wir haben gesehen, wie während der Pandemie Menschen auf offener Straße misshandelt wurden. Wie viele solche Fälle von Menschen, die draußen einfach saßen, um Luft zu holen und denen schlimmes widerfuhr, haben wir erlebt? Es herrscht eine Atmosphäre der Polizeigewalt, der Angriffe auf religiöse Orte auf Friedhöfe. Aber dennoch stellt sich dieser Staat hin und kritisiert die USA, als würde es hier Menschenrechte geben.“
Wenn das Regime jetzt nicht gestoppt wird, kann es zu spät sein
Das Ende der Fahnenstange ist erreicht, es ist notwendig, das Regime zu stoppen, fordert Hatimoğulları. Denn wenn es jetzt nicht gestoppt werde, könne es zu spät sein. „Wir befinden uns an einem Wendepunkt. Das Problem aller demokratischen, oppositionellen Kräfte in der Türkei ist das gleiche. Das gilt unabhängig von politischer Ansicht, ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit. In diesem Land verschärfen sich Hunger und Armut ebenso wie die Kriegspolitik. Die polarisierende Gewaltpolitik betrifft die Frauen besonders schwer. Deswegen ist es an der Zeit, dass alle unbeugsamen Kräfte, alle die sehen, wie schwer der Schaden ist, den die Existenz dieses Regimes den Menschenrechten und der Demokratie zufügt, einen gemeinsamen Kampf führen. Ich appelliere an alle demokratischen Massenorganisationen, an alle NGOs und warne sie, dass es morgen schon zu spät sein kann. Wir sind an einem Endpunkt angelangt – es ist nicht mehr tragbar. Die Situation in der Türkei ist alarmierend. Die Menschenrechte und die Demokratie wurden in diesem Land ermordet. Wir müssen jetzt unseren Kampf ausweiten, denn morgen wird es zu spät sein, sie wieder zu beleben.“