Güven: Keine Krisenbewältigung ohne Lösung der kurdischen Frage

„Alle politischen und wirtschaftlichen Krisen der Türkei stehen mit der kurdischen Frage in Verbindung. Sobald sie gelöst ist, werden auch alle anderen Probleme bewältigt“, erklärt Leyla Güven in einem Interview zum jüngsten Treffen mit Abdullah Öcalan.

Am 5. März berichtete Mehmet Öcalan in einem Interview von dem jüngsten Treffen mit seinem Bruder Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali, das zwei Tage zuvor stattgefunden hatte. Der kurdische Vordenker, der zuletzt am 7. August 2019 eine Konsultation mit seinen Anwälten führen konnte, äußerte sich bei der Zusammenkunft unter anderem zur kurdischen Frage und der Syrien-Politik der AKP-Regierung. Öcalan legte den Schwerpunkt auf die Strategie des „dritten Weges”, der er eine Schlüsselrolle bei der Lösung aller Probleme im Mittleren Osten beimisst und rief zur Stärkung der Organisierung und des Kampfes auf.

Wir haben mit der HDP-Abgeordneten Leyla Güven, die gleichzeitig Ko-Vorsitzende des zivilgesellschaftlichen Zusammenschlusses DTK (Demokratischer Gesellschaftskongress) ist, über die Äußerungen Abdullah Öcalans gesprochen. Die Politikerin, die von November 2018 bis Mai 2019 eine weltweite Hungerstreikbewegung anführte, durch welche die achtjährige Isolation des PKK-Gründers kurzzeitig durchbrochen werden konnte, wies zunächst auf die internationalen Dimensionen des Komplotts gegen Öcalan hin, das im Februar 1999 in seine völkerrechtswidrige Verschleppung in die Türkei mündete.  

„Öcalans Einfluss kann nicht ignoriert werden“

„Die Ziele der an der Entführung Öcalans beteiligten Mächte sind ins Leere gelaufen. Allen voran war es Öcalan selbst, der diesen Mächten einen Strich durch die Rechnung machte. Doch auch das kurdische Volk setzte alles daran, das Komplott in seinem Sinne umzukehren, sein angestrebtes Leben in Freiheit und einer Demokratie, einen Status und die Durchsetzung der Lösung der kurdischen Frage zu erreichen.

Doch die diesbezüglichen Anstrengungen Öcalans haben eine andere Dimension. In Isolationshaft auf Imrali verfasste er mehr als zehn Bücher und schrieb Dutzende Analysen. Er tat alles, damit seine Gedanken nach draußen gelangen. Unter viel Kraftaufwand versuchte er sowohl für den Staat als auch seine Organisation und sein Volk, den Lösungsprozess voranzutreiben.

Die vorhin angesprochene Isolationshaft hält nun seit mittlerweile 21 Jahren an und verschärft sich immer weiter. Es finden nur vereinzelt Besuche bei Öcalan statt. Was diese Isolation bedeutet und worauf sie abzielt, weiß das kurdische Volk genau. In der Vergangenheit hatten Öcalans Erklärungen vor allem Einfluss auf die kurdische Gesellschaft. Jetzt haben sie Auswirkungen im gesamten Mittleren Osten. Die arabische, assyrische, armenische Bevölkerung und viele andere Völker messen seinen Gedanken große Bedeutung bei.

Der Mittlere Osten ist eine multiidentitäre Region, die in ihrer gesamten Geschichte Zeugin von Massakern wurde. Es vergeht kein Tag ohne eine Schreckensnachricht aus den Staaten des Mittleren Osten. Es findet ein Massensterben statt und ganze Landstriche werden vom Krieg verwüstet. Der Mittlere Osten mit seiner Geschichte, seiner Kultur und seinen Menschen ist einem permanenten Genozid ausgesetzt. Öcalan hat sich damit am intensivsten auseinandergesetzt. Deswegen wird seine Isolation immer weiter verschärft.“

„Sein Wort hat Einfluss auf Millionen“

Güven erinnert an die inhaltslosen Erklärungen des türkischen Innenministers zum Brand auf Imrali, die absolut verantwortungslos gewesen seien. „Als jemand, der in diesem Land zum Minister ernannt worden ist, weiß er sehr genau, dass Öcalan nicht irgendein Gefangener ist. Öcalans Wort beeinflusst Millionen. Dies ist im dreieinhalb Jahre andauernden, sogenannten Verhandlungsprozess mehr als deutlich geworden. Deswegen hat dieses Statement große Sorgen bereitet.“ Am 27. Februar 2020 hatte der Innenminister in einer Livesendung im Fernsehen öffentlich gemacht, dass auf der Insel Imrali ein Brand ausgebrochen ist. Zu dem Zeitpunkt wurden die Imrali-Gefangenen bereits knapp sieben Monate lang von ihrer Außenwelt abgeschottet. Erst aufgrund weltweiter massiver Proteste musste der Staat schließlich einlenken und die Angehörigen Öcalans und die seiner Mitgefangenen zur Insel reisen lassen.

„Öcalans Hauptanliegen ist der Frieden“

„Nach dem jüngsten Treffen mit Öcalan haben wir gesehen, dass er seinen Willen zum Frieden und zu einer Lösung in keiner Weise verloren hat. Wie bereits zuvor erklärte er; ‚Sprechen wir nicht über meine Gesundheit, das ist kein besonders wichtiges Thema. Das wichtige ist die Situation unseres Volkes, dass dieser Krieg aufhört und keine jungen Menschen mehr sterben.‘ Von dem, was uns sein Bruder Mehmet Öcalan berichtete, können wir klar sagen, dass Abdulah Öcalan sehr wichtige Themen ansprach und betonte, sofern der Wille auf Staatsseite bestehe, das Problem binnen einer Woche gelöst werden könne.“

„Botschaft richtet sich an beide Seiten“

Leyla Güven wies darauf hin, dass Öcalan für die vollständige Demokratisierung der Türkei die Bildung eines neuen demokratischen Pols in der türkischen Politik für notwendig erachtet. Dieser Pol – die Kurden zusammen mit den demokratischen und linken Kreisen – soll das „dritte Standbein“ des Tischs mit den beiden anderen Machtblöcken in der Türkei werden. Alle Organisationen und Einrichtungen müssten sich als drittes Standbein für eine Lösung engagieren.

„Dies ist eigentlich eine Botschaft an beide Seiten. Sie richtet sich an die Völker der Türkei, die wissen sollten, dass der zweibeinige Tisch jederzeit umfallen kann. Deswegen müssen wir das dritte Bein bilden, um zu einer Lösung beizutragen. Die Botschaft an den Staat besagt: ihr könnt mit einem zweibeinigen Tisch nichts anfangen. Ihr könnt weder zu einer Macht im Mittleren Osten werden noch etwas Gutes den Völkern in der Türkei tun. Ihr werdet lediglich jeden Tag ein bisschen weiter einbrechen. Kommt und beachtet das Volk, das zu einem dritten Standbein zusammengekommen ist. Es soll als drittes Bein den Tisch aufrecht tragen, um auf diese Weise innerhalb der territorialen Integrität der Türkei eine demokratische Lösung gefunden werden kann.“

„Die AKP muss ihre Kurdenfeindschaft hinter sich lassen“

Güven führte weiter aus, dass alle politischen und wirtschaftlichen Krisen der Türkei mit der kurdischen Frage in Verbindung stehen. Sobald sie gelöst sei, würden auch alle anderen Probleme bewältigt.

„Wenn wir uns die aktuellen Krisen der Türkei ansehen, ob es die ökonomische Krise ist, die soziale Krise, die Frauenmorde und die Ausbeutung der Arbeitskraft: für sie alle stellt die kurdische Frage einen entscheidenden Faktor dar. Denn ein großer Teil der Ressourcen der Türkei fließt in den Krieg gegen die Kurden. Und ohne eine Normalisierung, ohne Frieden mit uns, kann keines dieser Probleme gelöst werden.

„Was hat die Türkei in Syrien verloren?“

Momentan fragen wir uns wieder, was die Türkei in Syrien verloren hat. Die Frage stellen wir der Politik andauernd. Was macht die Türkei in Syrien, während sie selbst solche riesigen ungelösten Probleme hat? Kann sie Abhilfe schaffen? Nein. Dennoch läuft sie mitten in den Sumpf von Idlib hinein. Die Türkei glaubte, mit ein paar Treffen mit dem Iran und Russland die Sache zu lösen, während sie alle Verbrecherbanden in Idlib zusammenzog. Das Dilemma in Idlib verdeutlicht nun, worum es eigentlich geht: eine Politik der Feindschaft gegen die Kurden. Wir müssen es beim Namen nennen. Es ist Feindrecht.“

„Schluss mit der Behandlung der Kurden nach Feindrecht“

Leyla Güven fordert den Abzug der Türkei aus Syrien und verlangt von der Regierung das Ende des Feindrechts, das gegen die Kurden praktiziert werde. „Der Staat ernennt Zwangsverwalter über die Kommunen der Kurden, verhaftet kurdische Politiker. Er unterdrückt das Volk und überzieht auch all seine Einrichtungen mit Repression. Und auch in Syrien attackiert er Kurden und alle anderen Völker. In Südkurdistan greift der türkische Staat ebenfalls an und betreibt ein geheimdienstliches Agentennetzwerk. Warum? Einzig und allein aus Kurdenfeindschaft. Immer, wenn wir das zur Sprache bringen, meint die AKP, nichts gegen Kurden zu haben Aber man muss es beim Namen nennen, das ist nichts anderes als Kurdenfeindschaft.

„Weder AKP noch Russland werden Lösung bringen“

Die AKP ist nicht bereit für eine Lösung, auch Russland oder die USA sind es nicht. Beide Staaten versuchen die Türkei in ihre Abhängigkeit zu bringen und verfolgen eine Politik nach dem Motto ‚Der Feind meines Feindes ist mein Freund‘. Die Bilder aus Moskau waren bitter für die türkische Regierung. Der Präsident der Türkei wurde gedemütigt. Aber die Führung eines Landes, die das alles hinnimmt, ist nicht in der Lage in Betracht zu ziehen, sich für eine Lösung mit den Kurden zusammen zu setzen.“

„Eine Türkei, die mit den Kurden Frieden schließt, wäre wortführend im Mittleren Osten“

Güven schloss mit den Worten: „Eine Türkei, die mit den Kurden Frieden schließt, wäre wortführend im Mittleren Osten. Wir haben es mit einer Regierung zu tun, die keine Lösung will und hinter jedem kurzfristigen Profit her ist. So kann es nicht weitergehen. Nach 18 Jahren an der Macht werden die AKP und MHP bald von der Bühne der Geschichte ausgelöscht werden. Es gibt nur einen Ausweg und den hat Öcalan benannt. Wir müssen das dritte Standbein werden.“