Die Grünen mischen sich in den türkischen Wahlkampf ein und rufen zur Abwahl von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan auf. Das geht aus einem am Donnerstag getroffenen Beschluss des Grünen-Bundesvorstands hervor. In dem Papier betont die Parteispitze um die beiden Ko-Vorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour: „Bündnis 90/Die Grünen stehen fest an der Seite all derer, die in der Türkei für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Gleichstellung und Menschenrechte kämpfen. Wir verurteilen die Menschenrechts- und Rechtsstaatsverletzungen der vergangenen Jahre, fordern eine sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen sowie die Rückkehr zu einem politischen Dialog- und Friedensprozess in der kurdischen Frage.“ Und weiter: „Mit den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen besteht nach Jahren der autoritären Führung unter Präsident Erdogan eine echte Chance, zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zurückzukehren. Wir bitten alle in Deutschland ansässigen und in der Türkei wahlberechtigten Menschen, an der Wahl am 14. Mai teilzunehmen und sich für den demokratischen Veränderungsprozess einzusetzen.“
Klingt zunächst nicht schlecht. Das Anprangern von Rechtsverletzungen in der Türkei ist immer angebracht. Man fragt sich nur, weshalb Bündnis 90/Die Grünen bisher schwiegen, zum Beispiel zu den völkerrechtswidrigen Angriffen der türkischen Armee mit Chemiewaffen in Südkurdistan (Nordirak). Oder zu den gezielten Tötungen durch Drohnen in der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES). Erst heute wurden dort wieder zwei Mitglieder der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) bei einem Drohnenangriff der Türkei getötet. Oder warum schweigen die Grünen zum System totaler Isolation der vier Gefangenen auf der Gefängnisinsel Imrali? Und warum wurden nicht schon längst Waffenlieferungen an das Erdoğan-Regime gestoppt? Außenministerin Anna-Lena Baerbock versprach noch vor der Bundestagswahl 2021 vollmundig: „Wir setzen uns für ein Exportverbot von Waffen und Rüstungsgütern an Diktaturen, menschenrechtsverachtende Regime und in Kriegsgebiete ein“.
Auch die Freilassung aller politischer Gefangener wird heute gefordert. Gemeint sind wahrscheinlich die in der Türkei Inhaftierten, nicht die derzeit 13 kurdischen Aktivist:innen in deutschen Gefängnissen. Sie sind angeklagt wegen des umstrittenen Paragraphen 129a/b, an dem die Bundesregierung eisern festhält und sich damit eben jene Definition von „Terrorismus“ zu eigen macht, auf die sich auch Erdoğan beruft bei all seinen Verhaftungswellen gegen jedwede Opposition.
Wenn Bündnis 90/Die Grünen einen „politischen Dialog- und Friedensprozess in der kurdischen Frage“ fordern, könnten sie als Regierungspartei erst einmal in ihrem eigenen Land beginnen. Sie könnten sich für eine Aufhebung des Verbots der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) einsetzen und für die Rücknahme der Verfolgungsermächtigung gegen (vermeintliche) kurdische Aktivist:innen. Sie könnten sofort alle Abschiebungen in die Türkei stoppen und die Ausländerbehörden anweisen, schikanöse Auflagen gegenüber Kurd:innen zu beenden.
Das Unrecht bei anderen anzumahnen ist leicht und kostet nicht viel. Vielleicht wäre es besser, erst einmal vor der eigenen Haustüre zu kehren.
Wir können gespannt sein, wie die grüne Außenministerin auf diese Stellungnahme des Vorstands ihrer Partei reagiert.