Diplomatische Delegationen aus Finnland und Schweden sind heute nach Ankara gereist, um mit der türkischen Regierung über den blockierten NATO-Beitritt zu verhandeln. Seine Blockadehaltung begründete Präsident Recep Tayyip Erdoğan zuletzt damit, dass die skandinavischen Länder „wie ein Gästehaus für Terrororganisationen“ seien.
Schwedens Regierungschefin Magdalena Andersson erklärte im Vorfeld in Stockholm, man werde „eine Reihe an Dingen besprechen, die in Medienberichten oder Aussagen an anderer Stelle unklar“ gewesen seien. „Natürlich geht es darum, wohin wir unsere finanzielle Hilfe schicken, und dass wir Waffen verkaufen“, sagte die Premierministerin. „Wir senden kein Geld an Terrororganisationen, offensichtlich – oder Waffen.“
Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu hatte am Dienstag bekräftigt, dass „Schweden und Finnland die Unterstützung von Terror“ beenden müssen, die Türkei verlange „eine schriftliche Vereinbarung für konkrete Schritte“.
Kurd:innen in Helsinki: „Schachfiguren der internationalen Politik“
Zu Wort gemeldet hat sich auch das Kurdisch-Demokratische Gemeindezentrum in Finnland (NCDK): „Kurd:innen kämpfen seit Jahrzehnten mit politischen und friedlichen Mitteln für ihre Rechte. Leider arbeitet der türkische Staat gegen alle pro-kurdischen Parteien. Ein Beispiel hierfür ist die HDP (Demokratische Partei der Völker), die bei den türkischen Parlamentswahlen über sechs Millionen Stimmen bekam. Durch den Befehl des Diktators Erdogan wurden tausende HDP-Politiker:innen, in der HDP Engagierte sowie Journalist:innen und Friedensaktivist:innen festgenommen oder zur Flucht aus der Türkei gezwungen. Sie werden ohne adäquate Beweise beschuldigt, Straftaten mit terroristischem Bezug begangen zu haben.
In der Debatte der letzten Tage über einen möglichen Beitritt Finnlands in die NATO sagte der Diktator Erdogan, dass er eine Mitgliedschaft Finnlands verhindern würde, weil er glaubt, dass der finnische Staat uns in Finnland lebende Kurd:innen und den kurdischen Freiheitskampf unterstützen würde. In diesem politischen Spiel verlangt die Türkei die Auslieferung finnischer und schwedischer Kurd:innen. Der türkische Staat hat außerdem verlangt, dass die Regierungen Finnlands und Schwedens Stellung beziehen gegen die kurdischen Freiheitskämpfer:innen, die die Terrorgruppe Daesh (IS) besiegt haben. Fakt ist also, dass wir Kurd:innen wieder einmal Schachfiguren in einem internationalen politischen Spiel sind, in dessen Scheinwerferlicht nun Finnland, Schweden und die Türkei geraten sind.“
Hunderte Kurd:innen stehen auf Listen der Geheimdienste
Der kurdische Verband weist darauf hin, dass die Türkei nicht das ersten Mal „Staaten des Westens bedrängt, um weiter Minderheitengruppen unterdrücken zu können. In den 1990ern setzte die türkische Regierung westliche Regierungen unter Druck, was wiederum dazu führte, dass die USA die PKK ohne Begründung auf die internationale Terrorliste setzte. Einige Jahre später wurde die Leitfigur des kurdischen Volkes, Abdullah Öcalan, festgenommen, und bald darauf folgte die EU der US-amerikanischen Linie und kategorisierte die PKK als Terrororganisation. Gegen diese Beschlüsse erhoben zuletzt im Jahr 2021 mehrere europäische Gerichte Einspruch. Die Gerichte befanden, dass die Kategorisierung als ,Terrororganisation' eine politische und keine rechtliche ist und somit juristisch nicht haltbar. Der Druck der Türkei gegen Länder des Westens hält bis zum heutigen Tage an, denn hunderten Kurd:innen droht die Abschiebung aus den nordischen Ländern auf Basis geheimer Gefährderlisten des lokalen Sicherheitsbehörden.
Stimmprognosen für Erdogan auf niedrigstem Niveau
Um die aktuellen Aussagen des Diktators Erdogan besser zu verstehen, müssen wir die Lage der Türkei und des Nahen Ostens im Großen und Ganzen betrachten. Die Wahlen in der Türkei rücken näher und die Stimmprognosen für Erdogan lagen seit Jahren nicht so niedrig wie heute. Der einzige Weg für Erdogan die Wahlen zu gewinnen ist - neben Betrug und Manipulierung der Wahlergebnisse - die Gruppe der nationalistischen und fundamentalistischen Wähler:innen hinter sich zu sammeln, obwohl auch diese Erdogans Politik satt haben. Zeitgleich hat Erdogan seine Ziele in Rojava, also in Nord- und Ostsyrien, trotz seiner Unterstützung des IS nicht erreicht, weil die kurdischen Freiheitskämpfer:innen einen unerwarteten und nie gesehenen Widerstand an den Tag legen. Aus diesem Grund führt Erdogan auch in diesem Moment Luftangriffe gegen diese Freiheitskämpfenden durch.“
Forderung an finnische Regierung: Kein Kuhhandel mit der Türkei
Der kurdische Gemeindeverband NCDK mit Sitz in Helsinki fordert, „dass die finnische Regierung keinen Kuhhandel mit der Türkei eingeht und klare Stellung für die Rechte der kurdischen Freiheitsbewegung und der in Finnland lebenden Kurd:innen bezieht.“ Die in Finnland lebenden Kurd:innen seien seit langer Zeit „geschätzte Akteur:innen im Bereich der Nichtregierungsorganisationen und im politischen Kampf für Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung. Der Einsatz von Kurd:innen für antirassistische Arbeit ist weitläufig bekannt. Wir wollen keine Spielfigur in den Händen anderer im internationalen politischen Spiel sein. Es lebe der Kampf der Kurd:innen für Freiheit, Demokratie und Recht.“
Foto: Kurdische Protestaktion in Helsinki, April 2022