Dr. Yerlikaya: „Normalisierung“ birgt große Gefahren

In der Türkei treten heute Lockerungen der Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie in Kraft. Dr. Halis Yerlikaya vom türkischen Ärzteverband hält die Normalisierung für verfrüht und die offiziellen Fallzahlen viel zu niedrig angesetzt.

Weltweit gibt es über vier Millionen bestätigte Infektionen mit dem neuartigen Coronavirus. Knapp 300.000 Menschen sind an der Lungenkrankheit COVID-19 gestorben. Auch in Kurdistan und der Türkei sieht die Lage schlecht aus. Nach Angaben des türkischen Gesundheitsministers gibt es 138.657 bestätigte Infektionsfälle und 3.768 Tote. Die Zahlen steigen täglich, trotzdem finden seit heute Lockerungen statt und es wird von dem Beginn einer „Normalisierungsphase“ gesprochen. Ab Montag dürfen in der Türkei unter der Bedingung der Abstandsregel Friseure, Restaurants und Einkaufszentren wieder öffnen.

Tatsächliche Fallzahlen bis zu fünf Mal höher

Dr. Halis Yerlikaya, Mitglied im Zentralrat des Türkischen Ärzteverbands (TTB), hat sich in Amed (Diyarbakir) gegenüber ANF zu den Lockerungen der Schutzmaßnahmen in der Corona-Pandemie geäußert. Er sagt, dass die Anzahl der tatsächlichen Infektionsfälle viel höher ist als vom Gesundheitsministerium an jedem Abend in den sozialen Medien angegeben. Im Vergleich zu den offiziellen Angaben seien die vom Ärzteverband erhobenen Daten vier bis fünf Mal höher. Gemessen an den Infektionsfällen stehe die Türkei weltweit auf Platz Sieben: „Bei den Todesfällen steht die Türkei auf dem zwölften Platz. Diese Daten zeigen, dass der Prozess nicht sehr erfolgreich verläuft. Die Normalisierungsphase muss nach diesen Daten ausgerichtet werden. Nach unseren Beobachtungen ist die Gefahr im Zusammenhang mit der Krankheit sowohl in der [kurdischen] Region als auch in der Türkei insgesamt nach wie vor sehr groß. Die Lockerungen sind eindeutig zu früh beschlossen worden und wir gehen von schweren Konsequenzen aus.“

Keine Transparenz bei der Datenerhebung

Die Bekämpfung der Pandemie kann nicht von politischen und wirtschaftlichen Sorgen bestimmt werden, führt Dr. Yerlikaya weiter aus. „Bei Pandemien muss das Handeln anhand der epidemiologischen Daten ausgerichtet werden. Außerdem muss die Datenerhebung transparent stattfinden. Beispielsweise teilen wir dem Gesundheitsministerium mit, wie viele Infektionen und Todesfälle es in welchen Altersgruppen in den verschiedenen Provinzen gibt, aber diese Angaben werden nicht an den Wissenschaftsausschuss weitergeleitet.“

Einkaufszentren unverzichtbar?

Dr. Yerlikaya hält die „Normalisierungsphase“ für gefährlich: „Man muss sich das mal vorstellen: Als erstes ist die Wiedereröffnung von Einkaufszentren auf die Agenda gesetzt worden. Dabei ist die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und anderem dringenden Bedarf ohnehin gewährleistet. Für den gesellschaftlichen Bedarf sind Einkaufszentren bekanntlich keine unverzichtbaren Räume. Unserer Meinung nach basiert die Wiedereröffnung nicht auf wissenschaftlichen Daten, sondern auf ökonomischen Gesichtspunkten. Wir denken, dass eine Normalisierung nur stattfinden kann, wenn die gesellschaftliche Gesundheit dabei geschützt wird. Die Regierung will jedoch seit Beginn an eine Erfolgsgeschichte schreiben. Wenn es im Moment wirklich einen Erfolg gibt, dann ist er dem Gesundheitspersonal und den Ärztinnen und Ärzten in den Krankenhäusern zuzuschreiben.“

600 Infektionsfälle in Amed

In Amed sind laut Dr. Yerlikaya bisher ungefähr 600 Infektionen festgestellt worden, 45 Menschen sind am Coronavirus gestorben: „Unter den positiv Getesteten sind 90 Beschäftigte aus dem Gesundheitssektor. Zwei von ihnen haben wir verloren. Insgesamt sinken die Fallzahlen, aber das darf nicht zur Sorglosigkeit führen. Die Pandemie geht weiter und es treten jeden Tag zahlreiche neue Fälle auf.“