Der Rechtsbeistand von Selahattin Demirtaş hat Beschwerde beim türkischen Verfassungsgericht in Ankara eingelegt. Der ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP befindet sich trotz eines gegenteiligen Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) weiterhin in Untersuchungshaft. Bereits 2018 hatte das Straßburger Gericht die Freilassung des kurdischen Politikers angeordnet, weil die lange Untersuchungshaft ungerechtfertigt sei. Die Türkei setzte das Urteil aber nicht um, daher landete der Fall vor der Großen Kammer des EGMR. Die höchste Instanz des Straßburger Gerichts bestätigte im Dezember 2020 das Urteil, forderte erneut die Freilassung von Demirtaş und warf Ankara „mehrere Verstöße“ gegen die Europäische Menschenrechtskonvention vor.
Aus völkerrechtlicher Sicht sind die Rechte und Verfahrensvorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) grundsätzlich für alle Staaten verbindlich, die sie ratifiziert haben und für die sie in Kraft getreten ist. Auch die Türkei ist als Mitglied des Europarats verpflichtet, die Urteile des EGMR zu befolgen, die gegen sie ergangen sind. Innerstaatlich sind die Urteile wegen Artikel 90 der türkischen Verfassung bindend. „Sollte der türkische Verfassungsgerichtshof an der unsinnigen Haltung, Entscheidungen des EGMR seien für das Land nicht bindend, festhalten, droht dem Gericht im nächsten Schritt vermutlich die Aberkennung als innerstaatliche Instanz”, kommentierte der Demirtaş-Anwalt Mahsuni Karaman.
EU-Parlament fordert Freilassung aller HDP-Mitglieder
Am Donnerstag hat das EU-Parlament in Brüssel von der Türkei die „sofortige und bedingungslose“ Freilassung von Demirtaş gefordert. Im Einklang mit dem bestätigten EGMR-Urteil müssten alle Anklagepunkte gegen den 47-Jährigen sowie gegen die frühere Ko-Spitze Figen Yüksekdağ und alle anderen inhaftierten HDP-Mitglieder fallengelassen werden, heißt es in einer mit großer Mehrheit angenommenen Entschließung. Andernfalls sei auch die Glaubwürdigkeit derzeitiger Bemühungen Ankaras um verbesserte Beziehungen zur EU fraglich.
Seit vier Jahren als politische Geisel im Gefängnis
Selahattin Demirtaş ist seit über vier Jahren im Gefängnis. Der damalige HDP-Vorsitzende wurde am 4. November 2016 zeitgleich mit zahlreichen weiteren kurdischen und linken Politiker*innen festgenommen und anschließend inhaftiert. Dem Menschenrechtsanwalt drohen im Hauptverfahren unter sogenannten Terrorvorwürfen bis zu 142 Jahre Gefängnis – obwohl im Juni selbst das türkische Verfassungsgericht seine Inhaftierung als rechtswidrig eingestuft hatte. Die Anklage baut auf 31 Ermittlungsberichten auf, die dem türkischen Parlament während seiner Zeit als Abgeordneter zur Aufhebung der Immunität vorgelegt worden waren. Im „Kobanê-Verfahren” wird Demirtaş unter anderem 37-facher Mord im Zusammenhang mit den Kobanê-Protesten vor im Herbst 2014 vorgeworfen. Im selben Verfahren sind auch Figen Yüksekdağ sowie 106 weitere Politikerinnen und Politiker angeklagt.