Politischer Schauprozess in der Türkei
Im sogenannten Kobanê-Verfahren in Ankara soll nach dreijähriger Verhandlungsdauer am 17. April das Urteil verkündet werden. Der Vorstand der DEM-Partei hat in einer am Freitag veröffentlichten Mitteilung über die Hintergründe des politischen Schauprozesses informiert und zur Aufmerksamkeit aufgerufen. Angeklagt sind insgesamt 108 Persönlichkeiten aus Politik, Zivilgesellschaft und kurdischer Befreiungsbewegung, darunter der gesamte ehemalige Vorstand der DEM-Vorgängerpartei HDP. Ihnen wird Mord in Dutzenden Fällen sowie „Aufwiegelung zum Aufstand“ und „Spaltung der Einheit und Integrität des Landes“ im Zusammenhang mit Protesten zwischen dem 6. und 8. Oktober 2014 gegen den Angriff der islamistischen Terrororganisation IS auf Kobanê vorgeworfen. Die Anklage stützt sich auf eine von der HDP am 6. Oktober 2014 gepostete Twitter-Nachricht. Darin wurde zu demokratischen Protesten in Solidarität mit der Bevölkerung von Kobanê in Nordsyrien aufgerufen. Die Generalstaatsanwaltschaft fordert erschwerte lebenslange Haftstrafen ohne Aussicht auf Entlassung.
„Der IS wurde in Kobanê gestoppt“
„Der IS und die dahinter stehenden Kräfte haben große Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen und stellen weiterhin eine große Bedrohung für die Menschheit dar“, betont der DEM-Vorstand in der Erklärung zum Prozess und schildert die damaligen Ereignisse: Der IS fiel 2014 in Kurdistan ein, eroberte die Großstadt Mosul im Nordirak und verübte einen Genozid und Femizid an der ezidischen Gemeinschaft in Şengal. Der barbarische Feldzug sei unter großen Opfern in Kobanê gestoppt geworden, so die DEM-Partei:
„Als der IS in Kobanê auf Widerstand stieß, verübte er mit dem ihm erteilten Auftrag noch größere Massaker. Angesichts dieser Angriffe, die weltweit mit großer Besorgnis beobachtet wurden, erklärte das Büro des UN-Generalsekretärs, dass ,Akteure, die etwas bewirken können, eingreifen müssen, sonst wird es in Kobanê zu einem Massaker kommen'. Der Völkermord in Şengal, die Belagerung von Kobanê und die konkreten Hinweise auf neue Massaker lösten nicht nur in der Türkei, sondern weltweit heftige Proteste aus. In der Türkei stellten Hunderttausende Menschen ähnliche berechtigte Forderungen. Sie forderten, dass das Massaker nicht toleriert und ein humanitärer Hilfskorridor nach Kobanê eingerichtet werden sollte.“
Angriffe auf friedliche Proteste
Nachdem Staatschef Erdogan die Eroberung von Kobanê durch den IS prognostiziert habe („Kobanê ist gefallen, es wird fallen“), seien die Proteste von Paramilitärs und Ordnungskräften angegriffen worden: „Die friedlichen Protestaktionen auf der ganzen Welt wurden von den Massakern in der Türkei überschattet, Nach Angaben des Menschenrechtsvereins (IHD) wurden während Kobanê-Proteste 46 Zivilpersonen getötet, nach Angaben der Generaldirektion für Sicherheit 48 Zivilpersonen. Dutzende parlamentarische Anträge der HDP, die Todesfälle zu untersuchen und die Verantwortlichen für diese Vorfälle zu finden, wurden mit den Stimmen von AKP und MHP abgelehnt. Im Jahr 2020, also sechs Jahre später, wurde unter dem Vorwand eines Tweets ein Schauverfahren eingeleitet, in dem HDP-Mitglieder für die Toten verantwortlich gemacht werden, bei denen es sich zu einem großen Teil ebenfalls um HDP-Mitglieder handelte.“
Politisches Verfahren zur Liquidierung der HDP
Der Kobanê-Prozess sei ein politisches Verfahren zur Liquidierung der HDP, so der DEM-Vorstand: „Alle Phasen des Verfahrens haben offenbart, dass es dabei um Rache an Politikerinnen und Politikern geht, die eine ehrenhafte Haltung gegen die Gräueltaten des IS einnahmen.“ So seien die 2014 eingeleiteten Ermittlungen nach jahrelangem Stillstand ohne rechtliche Grundlage aus politischem Kalkül wieder aufgenommen und die Justiz als Machtinstrument der Regierung missbraucht worden. Der gesamte Prozess sei unter politischem Druck und unter Missachtung rechtlicher Normen geführt worden. Die DEM weist auf grobe Verfahrensfehler und die Entlassung des Vorsitzenden Richters hin, das Recht der Angeklagten auf Verteidigung und einen fairen Prozess sei in keiner Weise gewahrt worden.
Türkei ignoriert EGMR-Urteile
„Die Tatsache, dass es sich bei dem Prozess um eine Verschwörung handelte, wurde auch durch Urteile des EGMR bestätigt“, betont der DEM-Vorstand. Viele der Angeklagten, darunter die ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, sind seit November 2016 im Gefängnis. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stuft ihre Verhaftung als politisch motiviert ein und hat mehrmals ihre Freilassung angeordnet. Das Ministerkomitee des Europarates hat zuletzt im März die Freilassung der ehemaligen HDP-Abgeordneten gefordert. Die Türkei ignoriert diese Entscheidungen.
„So wie wir uns bisher gegen viele unrechtmäßige Handlungen gewehrt und sie vereitelt haben, werden wir auch dieses Komplott vereiteln. Wir rufen die gesamte demokratische Öffentlichkeit, Nichtregierungsorganisationen und politische Parteien auf, Partei für die demokratische Politik zu ergreifen“, appelliert der DEM-Vorstand im Vorfeld der Urteilsverkündung.
Seit über sieben Jahren in Untersuchungshaft
18 der Angeklagten befinden sich in Untersuchungshaft, einige davon seit über sieben Jahren. Bei den inhaftierten Angeklagten handelt es sich um die ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sowie um Gültan Kışanak, Sebahat Tuncel, Alp Altınörs, Ayka Akat Ata, Ali Ürküt, Ayşe Yağcı, Bülent Barmaksız, Dilek Yağcı, Günay Kubilay, İsmail Şengül, Meryem Adıbelli, Nazmi Gür, Pervin Oduncu, Zeynep Karaman, Aynur Aşan und Zeynep Ölbeci.