Der Theaterschauspieler Ahmet Uçar ist beim Versuch der Ausreise am Istanbuler Flughafen Sabiha Gökçen festgenommen worden. Eine Begründung zu der bereits am Donnerstag erfolgten Festnahme teilte die Polizei nach Angaben der Stiftung BEKSAV, deren Ko-Vorsitzender Uçar ist, nicht mit. Mit Latife Canan Kaplan war am Montag bereits die weibliche Hälfte in der genderparitärischen Doppelspitze der in Istanbul ansässigen Kulturstiftung in Gewahrsam genommen worden – ebenfalls am Flughafen. Auch in ihrem Fall war die Grundlage für das Vorgehen zunächst unklar.
Kaplan war nach einem Tag in Haft der Militärpolizei (Gendarmerie) und einem Verhör bei der Oberstaatsanwaltschaft Istanbul wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Begründet wurde ihre Festnahme mit einem Verfahren unter dem Label „Terrorismus“. Ausgangspunkt der Ermittlungen seien laut BEKSAV Denunziationen eines Kronzeugen aus dem Umfeld der Sozialistischen Partei der Unterdrückten (ESP), die seit geraumer Zeit im Fokus türkischer Verfolgungsbehörden ist und der die Stiftung nahesteht.
Um in den Genuss der Straffreiheit zu kommen, hat der frühere ESP-Aktivist Onur D. offenbar eine ganze Reihe Aktive und Handelnde linker und sozialistischer Kreise belastet. Durch seine Denunziationen war es bereits Anfang September zu Festnahmen gekommen. Betroffen davon waren Özlem Gümüştaş, die Ko-Vorsitzende der ESP, und die linke Rechtsanwältin Sezin Uçar. Der Vorstand von BEKSAV vermutet, dass auch im Fall Ahmet Uçar belastende Aussagen von Onur D. als Grund für die Festnahme herangezogen werden. Die Stiftung verurteilte den Vorgang als „Schande für diejenigen, die sich in der Hoffnung wiegen, dass sie durch Lücken, die sie in der Atmosphäre der Kultur und Kunst öffnen, die Vorherrschaft erlangen könnten“ und forderte die sofortige Freilassung des Schauspielers.
Premiere von Stück in Gewahrsam aufgeführt
Ahmet Uçar, der festes Ensemblemitglied der Theatergruppe Imge ist und in der Theaterakademie von BEKSAV Schauspiel unterrichtet, wird nicht zum ersten Mal festgenommen. Im Februar 2021 verbrachte er vier Tage in Polizeihaft, weil er sich in Istanbul an der Bekanntmachung der BMG (tr. Birleşik Mücadele Güçleri – Vereinte Widerstandskräfte) beteiligt hatte. Zu dem Bündnis schlossen sich damals mehrere linke und sozialistische Bewegungen aus Kurdistan und der Türkei zusammen, um dem islamofaschistischen Regime in Ankara organisiert entgegenzutreten. Die geplante Premiere des Stücks „Ölüm Uykudaydı“ hatte Uçar daraufhin nicht wie geplant auf der Bühne, sondern in einer Gewahrsamszelle auf dem berüchtigten Polizeirevier Vatan aufgeführt. In Inhalt und Form war es treffend, da „Tiyatro Imge“ mit „Ölüm Uykudaydı“ (dt. Der Tod war im Schlaf) auf die Notlage politischer Gefangener in der Türkei aufmerksam machen wollte.
Ahmet Uçar bei der Performance von Ölüm Uykudaydı | Tiyatro Imge
„Ölüm Uykudaydı“ wegen Bedenken für öffentliche Sicherheit verboten
Das Stück aus der Feder des kurdischen Autors und Theaterregisseurs Cuma Boynukara handelt davon, was Gefangene, die ihrer Freiheit beraubt und zwischen vier Wänden abgeschnitten von der Außenwelt, durchmachen und denken. Ahmet Uçar versucht mit der Ein-Personen-Inszenierung die Gefühle eines politischen Gefangenen, der schwerer Folter ausgesetzt war und überlebte, auf die Bühne zu bringen. Nach dem „Debüt“ im Vatan-Revier hatte Uçar das Stück auch in der Gewahrsamszelle des Gerichtsgebäudes Kartal aufgeführt. Die Istanbuler Behörden verhinderten noch im selben Jahr mehrere Aufführungen, weil es „nicht im Einklang mit der öffentlichen Sicherheit“ stehe.
BEKSAV – Kunst und Kultur für unterdrückte Identitäten
Auch die Stiftung für Wissenschaft, Bildung, Ästhetik, Kultur und Kunst (BEKSAV) gerät immer wieder ins Visier staatlicher Repression. BEKSAV wurde im Januar 1995 in der Kırtasiyeci-Straße in Istanbul-Kadıköy unter den harten repressiven Bedingungen der damaligen Zeit gegründet und arbeitet mit einer sozialistischen Perspektive unter dem Motto „Kunst für die Gesellschaft, Wissenschaft für die Menschheit, Politik für die Freiheit“. Die Stiftung betätigt sich in verschiedenen Kunstbereichen, insbesondere in Musik, Theater, Kino und Literatur und bietet Kurse in vielen Bereichen wie Instrumentenbau, Tanz, Fotografie und Malerei an. Die von ihr organisierten aktuellen oder theoretischen Diskussionen und Seminare werden in publikationsreife Akte umgesetzt. Mit Ausstellungen und Rundreisen erreicht sie ein großes Publikum.
Besonders bekannt sind die alternativen Filmfestivals von BEKSAV, deren Charakter in der Selbstbeschreibung deutlich wird: „Unser Ziel ist es, die Herrschaft der kapitalistischen Krise, die die ganze Welt erfasst hat, im Kinosektor zu brechen, indem wir solidarisch zusammenstehen. Wir wollen die Sichtbarkeit von unabhängigen Filmen erhöhen, die die Stimme des Anderen sein können und in den Mainstream-Kinosälen keinen Platz finden. Denn das Kino ist ein Instrument des Bewusstseins und der sozialen Erinnerung.“ Auf den Festivals werden „Kurz- und Langfilme, Dokumentarfilme, Experimental- und Animationsfilme gezeigt, die Themen wie Arbeit, Frauen, LGBT+, Stadt-Umwelt-Kampf und Menschenrechte“ behandeln.
BEKSAV setzt sich insbesondere für die Stärkung unterdrückter Identitäten und den Kampf der Frauen ein. Im Juni machte die Stiftung Schlagzeilen, als der Gouverneur von Istanbul die Polizei anwies, gegen eine Kinovorführung des Films „Pride“ vorzugehen. Dieser Spielfilm erzählt von der Initiative „Lesbians and Gays Support the Miners“, einer Gruppe LGBTI+-Aktivist:innen, die 1984 gemeinsam mit Bergleuten gegen die neoliberale Politik des Thatcherismus kämpften. Der Gouverneur hatte zuvor die Vorführung des Films verboten.