Bahnhofsmassaker geht vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

Nach Abweisung der Klage gegen türkische Behörden im Zusammenhang mit dem Bahnhofsmassaker vom 10. Oktober 2015 kündigte die Anwältin Ilke Işık an, nun vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu gehen.

Gedenken der Opfer des Anschlags in Ankara

Der 10. Oktober 2015 hat sich als ein Tag des Schreckens und Terrors in das kollektive Gedächtnis der Friedensbewegung und demokratischen Opposition in der Türkei und Kurdistan eingebrannt. Während der türkische Staat den Friedensprozess einseitig beendet hatte, das Militär kurdische Städte dem Erdboden gleich machte, die nach Aberkennung der Wahl die demokratische Autonomie ausgerufen hatten und den IS gegen die Selbstverwaltung in Rojava hochrüstete, protestierten dennoch unzählige Menschen für den Frieden. Auf einer großen Kundgebung, zu der die HDP, die Gewerkschaftsverbände KESK und DISK, die Architekten- und Ingenieurskammer (TMMOB) und der Türkische Ärztebund (TTB) unter dem Motto „Arbeit, Demokratie, Frieden“ aufgerufen hatten, sprengten sich zwei IS-Attentäter vor dem Hauptbahnhof in Ankara in die Luft und ermordeten 104 Menschen, mehr als 500 weitere wurden zum Teil schwer verletzt.

Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs bestätigt Straflosigkeit

Obwohl es deutliche Hinweise gbit auf „extreme Versäumnisse“, die einer direkten Unterstützung der Anschlagsvorbereitung gleichkommen, wurde in der Türkei jede Klage gegen staatliche Stellen blockiert. Nun wies auch der Verfassungsgerichtshof die Klage ab. Die Anwältin Ilke Işık erklärte gegenüber ANF in diesem Zusammenhang: „Es gibt eine Praxis der Straflosigkeit, was die Verantwortlichkeit von Amtsträgern bei Massakern betrifft, an denen der Staat beteiligt ist. Diese neue Entscheidung des Verfassungsgerichts bestätigt es wieder.“

Selbst Innenministerium musste schwerste „Versäumnisse“ einräumen

In einem Bericht von Zivilinspekteuren des Innenministeriums war die Rede von „Vernachlässigung“ der Pflicht durch den stellvertretenden Polizeidirektor von Ankara, die Sicherheit der Kundgebungsteilnehmer:innen zu garantieren. Selbst das Innenministerium musste in dem Bericht einräumen, dass dem Nachrichtendienst Erkenntnisse vorgelegen hatten, dass Yunus Emre Alagöz, einer der Attentäter, sich auf einen Selbstmordanschlag vorbereite. Offenbar stand Alagöz bereits unter Observation. Bei Yunus Emre Alagöz handelte es sich um den Bruder des IS-Killer von Pirsûs (tr. Suruç), Şeyh Abdurrahman Alagöz, der 33 junge Aktivist:innen, die humanitäre Hilfe ins belagerte Kobanê bringen wollten, im Juli 2015 ermordete. Während kurdische Aktivist:innen für einen kritischen Social-Media-Post inhaftiert werden, reichte bei einem IS-Dschihadisten die Vorbereitung eines Massenmords offenbar nicht aus.

In dem Bericht wird auch auf den Einsatz von Tränengas gegen die Überlebenden eingegangen. Auch wenn der Bericht verneint, dass es Tote aufgrund des Tränengaseinsatzes gegeben habe, so wird hier erneut bestätigt, dass nach dem Massaker die Opfer von der Polizei mit Tränengas beschossen wurden. Insofern hätte dieser Bericht trotz seiner einseitigen Parteinahme für den Staat eine Grundlage für eine Klage geboten. Dennoch folgte der Verfassungsgerichtshof der Haltung des Gouverneurs von Ankara und der Staatsanwaltschaft, keine Klage gegen Vertreter der Polizeidirektion von Ankara zuzulassen. Damit ist der nationale Rechtsweg ausgeschöpft und der Weg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist geöffnet.

Verfassungsgericht stellte „Rechtmäßigkeit“ der Ermittlungsverweigerung fest

Die Anwältin Ilke Işık berichtet, dass sie bereits 2016 von dem Bericht der Zivilinspekteure erfahren und darauf ihre Klage aufgebaut hätten: „Wir hatten von diesem Bericht erfahren und aufgrund dieses Berichts eine Klage, in der wir eine Ermittlung gegen das Gouverneursamt Ankara und die verantwortlichen Beamten der Polizeidirektion beantragten, eingereicht. Wir wandten uns an das Verfassungsgericht, nachdem unsere Klage nicht bearbeitet wurde. Das Verfassungsgericht fasste neun separate Anträge, da sie mit dem Massaker vom 10. Oktober in Ankara in Zusammenhang stünden, zusammen und entschied, dass sie alle aus verschiedenen Gründen ‚unzulässig‘ seien. Das Verfassungsgericht erklärte, es habe keine Verfassungswidrigkeit feststellen können. Einige dieser Anträge wurden auf verfahrenstechnischer Grundlage bewertet, während andere als unzureichend qualifiziert eingestuft wurden. Es handelte es sich bei den Antragstellern um die Familien und Verwandten der Verstorbenen, der Verwundeten, mit anderen Worten um diejenigen, die das Massaker unmittelbar erlebt haben und Opfer ersten Grades des Massakers sind. Das Verfassungsgericht hält die Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft Ankara, keine Ermittlungen einzuleiten und die Anzeige bei Seite zu legen, ohne sie überhaupt zu prüfen, für richtig. Es sagt uns sogar: ‚Sie haben die Rechtsmittel nicht ausgeschöpft, es gab andere Stellen, an die Sie sich hätten wenden können.‘ Die gibt es aber nicht, es ist eine endgültige Entscheidung. Die Generalstaatsanwaltschaft in Ankara beschloss, den Fall nicht zu bearbeiten, und es gibt keinen innerstaatlichen Rechtsbehelf dafür, es gab keinen weiteren Klagemechanismus. Deshalb hatten wir uns an das Verfassungsgericht gewandt.“

Wir akzeptieren diese Entscheidung nicht“

Die Anwältin verurteilte das Vorgehen des Verfassungsgerichtes scharf: „Die Verantwortung der Staatsbediensteten wird eindeutig ignoriert. Das ist der Kern der Bedeutung der Entscheidung über die Anträge von neun verschiedenen Klägerinnen und Klägern. In seinen früheren Entscheidungen zu Verwaltungsgerichtsurteilen hat der Verfassungsgerichtshof bestätigt, dass der Bericht der Zivilinspektoren Inhalt von große Bedeutung habe, und daher Verwaltungsgerichtsverfahren auf der Grundlage dieses Berichts zu bewerten seien. In dieser Entscheidung wurde der Bericht jedoch überhaupt nicht erörtert oder erwähnt. Es ist jedoch notwendig, dies noch einmal zu wiederholen: Der Bericht beschreibt die Informationen, auf die die Beamten der Polizeidirektion Ankara nicht reagiert haben und die Maßnahmen, die nicht ergriffen wurden. Er stellt sogar fest, dass diese Informationen am 14. September unter Geheimhaltung gestellt und die erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen für die Kundgebung nicht getroffen wurden. Das Organisationskomitee sei nicht über diese Bedrohung und Geheimdienstinformationen informiert worden: ‚Die Beamten des Sicherheitsdirektoriums in Ankara haben nicht die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen für diese Kundgebung getroffen und die Informationen nicht ausgewertet. Daher sollte eine Ermittlung gegen sie eingeleitet werden.‘ Das steht im Bericht des Zivilinspektors, den das Verfassungsgericht nicht in seine Überlegungen einbezogen hat. Deshalb ist diese Entscheidung absolut inakzeptabel. Sie haben unsere Position als unzulässig bezeichnet; wir betrachten diese Entscheidung des Verfassungsgerichts als unzulässig. Es ist die Entscheidung, das Massaker vom 10. Oktober in Ankara zu vertuschen und die Verantwortung der Staatsdiener zu ignorieren.“

Seit neun Jahren rennen wir gegen die selben Wände“

Işık betonte, dass nun der Weg zum EGMR gegangen werde: „Tatsächlich sind es nun schon fast neun Jahre, in denen wir immer wieder gegen die selben Wände rennen. Das 4. Oberste Strafgericht in Ankara befasst sich nicht mit der Verantwortung von Amtsträgern. Auch die Staatsanwaltschaften in verschiedenen Teilen des Landes befassen sich nicht mit diesem Thema. Wir haben uns bei den Staatsanwälten beschwert, aber der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte unternimmt nichts. Wir haben das Innenministerium um Dokumente gebeten, die hat es nicht zur Verfügung gestellt. Mit anderen Worten, wir haben auf allen Ebenen des Staates gesehen, dass man entschlossen ist dafür zu sorgen, dass die Verantwortlichen für das Massaker vom 10. Oktober in Ankara niemals vor Gericht gestellt werden. Es wurde entschieden, die Verantwortlichen nicht zu verfolgen. Natürlich werden wir nach dieser Entscheidung den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anrufen. Dies wird unser erster Antrag an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Bezug auf das Massaker vom 10. Oktober in Ankara und die Verantwortlichkeiten für das Massaker sein, da bisher der Rechtsweg noch nicht ausgeschöpft war. Außerdem ist diese Entscheidung natürlich ein sehr negativer Präzedenzfall, in dem es nicht um die Verantwortung von Amtsträgern geht. In der Tat gibt es viele ähnliche Urteile in diesem Land. Es gibt eine Praxis der Straflosigkeit in Bezug auf die Verantwortung von Amtsträgern bei Massakern, an denen der Staat beteiligt ist. Leider können wir sagen, dass nun eine weitere solche Entscheidung durch das Verfassungsgericht hinzugekommen ist.“