Ein Leben voller Widerstand
Die „Schlacht um Kobanê“ gilt als Wendepunkt im Kampf gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS). Bis zu 200.000 Menschen waren aus den umliegenden Dörfern Kobanês in den Stadtkern geflüchtet, als die Dschihadistenmiliz im September 2014 mit Panzern und schwerem Geschütz von drei Himmelsrichtungen anrollte, um die Rojava-Revolution an jenem Punkt zu ersticken, an dem sie ihren Anfang genommen hatte. In Kobanê war am 19. Juli 2012 die demokratische Autonomie ausgerufen worden. Durch eine friedliche Revolution konnte die Kontrolle über die Stadt gewonnen und die Verwaltung an die Bevölkerung übertragen werden.
Viele Menschen flohen damals weiter in die Türkei, in der einstigen 50.000-Einwohner-Stadt blieben nur wenige tausend Kämpferinnen und Kämpfer zurück, um die IS-Extremisten abzuwehren. Unter den Verteidiger:innen Kobanês waren auch viele Freiwillige aus der Zivilbevölkerung, die an der Seite der YPJ und YPG Widerstand gegen den hochgerüsteten IS leisteten – und am Ende mit Kalaschnikows in den Händen und Überzeugung in ihren Herzen den Nimbus der Unbesiegbarkeit der Miliz brachen. Apê Nemir war einer von ihnen. Trotz seines stattlichen Alters von damals 64 Jahren griff auch er zur Waffe, kämpfte zeitweise sogar mit seinen Kindern in denselben Stellungen, und wurde mehrfach verletzt. Nun ist er im Alter von 74 Jahren an den Folgen eines Herzinfarkts in Kobanê gestorben. Für die YPG, deren Ehrenmitglied „Onkel unsterblich“ war (Nemir bedeutet auf kurdisch unsterblich), bedeutet sein Verlust eine „tiefe, schmerzhafte Lücke“.
Apê Nemir in einer Verteidigungsstellung in Ain Issa während der Raqqa-Offensive © Joey Lawrence
Apê Nemirs ganzes Leben ist eine Geschichte des Kampfes gegen Unterdrückung, die auch immer eine der Auflehnung und der Gegenwehr ist. Eine Geschichte derer, die die Hoffnung nicht verlieren, die entschlossen sind, die nicht aufgeben. 1950 im Dorf Dihap in Kobanê als Xelîl Osman Hemê geboren, wuchs Apê Nemir in einer Familie auf, die ihr Leben auf dem Fundament einer „Kultur der Verbundenheit“ zu Kurdistan etabliert hatte – und sich entschieden gegen die panarabische Herrschaft des Baath-Regimes zur Wehr setzte. Bis zur Revolution im Jahr 2012 wurde der kurdische Norden Syriens von den Baathisten und allen vorangegangenen Regierungen de facto als Kolonie beherrscht und seine Bevölkerung unterdrückt, Rojava wurde als Kornkammer ausgebeutet.
Diese Realität prägte Apê Nemir bereits in der Kindheit und nahm Einfluss auf seinen weiteren Werdegang. Er arbeitete in der Landwirtschaft und verfolgte gleichzeitig das politische Geschehen in Kurdistan. Dreimal landete er deshalb in den Kerkern des Regimes, wo er Opfer von Folter wurde. Aber er blieb unbeeindruckt von dem, was er im Gefängnis erlebte. Er hatte erfahren, dass der Begründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, im Sommer 1979 nach Kobanê gekommen war. Der Vordenker der kurdischen Befreiungsbewegung hatte die Türkei verlassen, da er bereits vorausgesehen hatte, dass es einen Militärputsch geben würde und der Widerstand außerhalb der türkischen Staatsgrenzen organisiert werden müsste. Apê Nemir lernte die PKK und ihren Begründer kennen – und wurde ein glühender Unterstützer. Mit Herz und Seele verschrieb er sich der Sache Kurdistans und der Befreiung seines Volkes.
Eine zerstörte Straße im Zentrum von Kobanê, in der auch Apê Nemir kämpfte © Ersin Çaksu / ANF
Apê Nemir organisierte die Gesellschaft, klärte über die Ziele der kurdischen Bewegung auf, für den Kampf gegen Faschismus und Kolonialismus, für ein Leben mit Freiheit und Gerechtigkeit, in Würde und Demokratie, mit Gleichheit. So streute auch er die Samen der Revolution von Rojava, und mit ihm seine Frau und die gemeinsamen sechs Kinder – sein Sohn Osman starb später als YPG-Kämpfer beim Kampf um Kobanê. Die gesamte Familie brachte sich in den Aufbau einer demokratischen Alternative ein, hinterließ ihre Spuren in dem Leuchtturm, zu dem die Rojava-Revolution inmitten des regionalen Chaos geworden ist: ein lebendiges Beispiel für die friedliche Koexistenz verschiedener Völker und Kulturen, in der sich ungeachtet extrem widriger Umstände das kommunale Prinzip der Kooperation zwischen Freien und Gleichen entfaltet, auf Grundlage von Radikaldemokratie, Feminismus und gerechter Ökologie.
„Für diese Grundsätze stand auch Apê Nemir ein“, schreibt die Generalkommandantur der YPG in einem Nachruf auf ihren unsterblichen Onkel. „Für sein Volk beschritt er den Weg der Freiheit und war einer von jenen, die für unsere Gesellschaft die Weichen für eine lebenswerte Zukunft legten. Ob im militärischen oder sozialen Bereich – Apê Nemir war immer zur Stelle, um Abhilfe zu schaffen. Selbst in den schwierigsten Zeiten erlosch die Flamme seines Widerstands nicht, sondern im Gegenteil, sie brannte umso heller. Apê Nemir ist ein Symbol des Kampfes um Kobanê, und Symbol für den Niedergang des IS – nicht nur für Kurdinnen und Kurden, sondern für die gesamte Welt. Er ist die Seele Kobanês und hat seinen Namen in die Geschichte Kurdistans und des Befreiungskampfes weltweit eingeschrieben. Als YPG bleiben wir Apê Nemir für immer verbunden. Die Erinnerung an ihn und das von ihm Geleistete wird uns stets in unserem Handeln für die Verteidigung der Errungenschaften unserer Revolution stärken.“