Der heutige Tag markiert den vierten Jahrestag des Massakers von Kobanê. Am 25. Juni 2015 drangen Dschihadisten der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) getarnt in YPG-Uniformen in die nordsyrische Stadt ein und verübten ein Massaker. 60 IS-Terroristen aus der Türkei hatten mit Wissen türkischer Soldaten den Grenzübergang passiert, ein weiterer Zug des IS kam über Dscharablus. Der Angriff begann im Morgengrauen mit der Explosion einer Lastwagen-Bombe. Anschließend fielen die Dschihadisten über Kobanê her. 252 Menschen, darunter 64 Frauen und 35 Kinder, sowie zwei Dutzend YPG/YPJ-Kämpfer*innen, wurden getötet, bevor die Terroristen von nachrückenden YPG-Einheiten erschossen werden konnten.
Eines der Opfer dieses Massakers war der Internationalist Rifat Horoz. Doch in der Erinnerung vieler Menschen, die aus fast allen Teilen der Welt im Herbst 2014 zur Unterstützung des Widerstandes gegen den IS-Faschismus an die Grenze bei Kobanê strömten, lebt er als „Onkel Rifat“ weiter.
Großmutter Guerillakämpferin vor dem Ersten Weltkrieg
Rifat Horoz war albanischstämmig, er stammte aus dem Balkan. Im Zuge des Bevölkerungsaustauschs zwischen Griechenland und der Türkei wurde seine Familie aus Pristina nach Sinop am Schwarzen Meer zwangsumgesiedelt. Als sein Vater, dessen Mutter vor dem Ersten Weltkrieg Guerillakämpferin war, Arbeit im Bergbau fand, siedelte die Familie nach Zonguldak über. Dort starb der Vater bei einem Grubenunglück, als Rifat Horoz 13 war. Daraufhin wurde er von einer Tante in Istanbul aufgenommen, wo er im Lauf seiner Schulzeit revolutionäre Kreise kennenlernte. Beim blutigen Taksim-Massaker, bei dem am 1. Mai 1977 über 34 Menschen starben, weitere 136 verwundet und 453 Personen festgenommen wurden, demonstrierte „Onkel Rifat“ im Block der kurdischen Gruppe Rizgarî. Ein Jahr später wurde er wegen Mitgliedschaft in dieser Gruppe inhaftiert und landete im Gefängnis. Einer der Mitgefangenen in seiner Zelle war der türkische Soziologe und Schriftsteller İsmail Beşikçi. Der heute 80-jährige Beşikçi verbüßte insgesamt 17 Jahre seines Lebens im Gefängnis, weil er sich mit der kurdischen Frage beschäftigte.
13 Jahre im Gefängnis
13 Jahre nach seiner Inhaftierung wurde Rifat Horoz 1991 aus dem Gefängnis entlassen. Er ließ sich wieder in Istanbul nieder und gründete eine international ausgerichtete Speditionsfirma, die unter anderem in der nordkurdischen Provinz Dîlok (Antep) eine Niederlassung hatte. Sein Herz schlug jedoch nach wie vor für die Revolution - und für Kurdistan. Als er bei Rizgarî aktiv war, hatte er bereits Vorstellungen von den jungen Menschen um Abdullah Öcalan, die damals die Apoisten (türk. Apocular; kurd. Apocî) genannt wurden. Schon länger beschäftigte ihn der Ansatz, den die Gruppe, aus der später die kurdische Arbeiterpartei PKK hervorging, verfolgte, sowie ein unabhängiges Kurdistan und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Gegenüber unserer Agentur hatte er in einem Interview wenige Monate vor seinem Tod erklärt: „Die Forderungen der Apoisten und das System von Kritik und Selbstkritik standen zwar auch auf der Tagesordnung anderer Organisationen. Doch bis auf Öcalan und seine Freunde waren diese Gruppen einfach überlastet. Die Apoisten waren die einzigen, bei denen die Analyse funktionierte.“
Onkel Rifat geht nach Kobanê
In Sêwreg (Siverek, Provinz Riha/Urfa) lernte Rifat Horoz bei einem beruflichen Aufenthalt den PKK-Kader Cemil aus Êlih (Batman) kennen. Danach wurde er in den Reihen der prokurdischen HEP (Halkın Emek Partisi) und nach deren Verbot im Jahr 1993 bei ihrer Nachfolgerin DEP (Demokrasi Partisi) aktiv. Die HEP gilt als Wegbereiterin der heutigen Partei der demokratischen Regionen (DBP).
Als der sogenannte IS im September 2014 über den nordsyrischen Kanton Kobanê herfiel, richtete der inhaftierte Vordenker der kurdischen Befreiungsbewegung, Abdullah Öcalan, einen Aufruf an alle Demokrat*innen und Revolutionär*innen, den Widerstand von Kobanê zu unterstützen. Rifat Horoz überließ daraufhin seine Wohnung in seiner Geburtsstadt Sinop, in die er mittlerweile wieder zurückgekehrt war, einer aus Rojava geflohenen Familie und ging selber an die Grenze. Dort lebte er in einem Dorf wenige hundert Meter von Kobanê entfernt und beteiligte sich monatelang an den zivilen Wachen, die ein Eindringen von IS-Faschisten von der Türkei aus verhindern sollten.
60-Jähriger bei den YPG
Nach der Befreiung von Kobanê am 26. Januar 2015 trat Rifat Horoz - trotz seiner 60 Jahre - den Volksverteidigungseinheiten (Yekîneyên Parastina Gel, YPG) bei. Er nahm den Nom de Guerre „Karker Kobanê” (Arbeiter von Kobanê) an. Seine Einheit war für die Räumung von Minen und nicht explodierten Bomben in der weitgehend zerstörten Stadt zuständig und beseitigte mehr als 800 Sprengkörper, 200 Granaten und vier Tonnen Landminen.
Bei dem IS-Überfall auf Kobanê nur fünf Monate später wurde Karker Kobanê gemeinsam mit über 200 Zivilisten und 23 YPG/YPJ-Kämpfer*innen getötet. Murat Karayılan, der zugleich Mitglied im Exekutivkomitee der PKK und Oberkommandierender des zentralen Guerillahauptquartiers ist, bezeichnete Rifat Horoz als eine Symbolfigur der Arbeiter*innen, Internationalist*innen und Demokrat*innen aus der Türkei. Sein Name stehe für die Geschwisterlichkeit der Völker. Er sei dem Pfad der selber türkischstämmigen PKK-Mitbegründer Kemal Pir und Haki Karer für die Solidarität zwischen dem türkischen und dem kurdischen Volk gefolgt.
Şehîd namirin, Rifat Horoz!