Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Amnesty International setzt Iran mit Absicht tödliche Gewalt zur Unterdrückung der anhaltenden Volksrevolte ein. Die iranischen Behörden hätten „ihre gut geschliffene Repressionsmaschinerie mobilisiert, um landesweite Proteste rücksichtslos zu unterdrücken im Versuch, jede Herausforderung ihrer Macht zu vereiteln“, erklärte Amnesty am Freitag. Die Organisation warnte davor, dass ohne ein internationales Handeln noch mehr Menschen Haft oder Tod riskierten.
Amnesty zufolge zeigt die Durchsicht von Fotos und Videos, dass die meisten Opfer von Sicherheitskräften mit scharfer Munition getötet worden seien. Ohne ein abgestimmtes gemeinsames Handeln der internationalen Gemeinschaft, „das über Verurteilungen hinausgeht, laufen unzählige weitere Menschen Gefahr, getötet, verstümmelt, gefoltert, sexuell missbraucht und hinter Gitter gebracht zu werden“, erklärte die Organisation.
Eskalation der Gewalt und der Einsatz scharfer Munition haben System
Zwei Amnesty zugespielte offizielle Dokumente belegten demnach, dass die Sicherheitskräfte zu hartem Durchgreifen angewiesen worden seien. So habe das Generalhauptquartier der Streitkräfte schon am 21. September die Kommandeure in allen Provinzen angewiesen, mit aller Härte gegen Demonstrierende vorzugehen. Diese seien darin als „Unruhestifter und Revolutionsgegner“ bezeichnet worden. Der Befehl belege, dass die Eskalation der Gewalt und der Einsatz scharfer Munition System hätten und eine bewusste Strategie der iranischen Führung seien.
Befehl: „Gnadenlos vorgehen, bis hin zur Verursachung von Todesfällen“
In dem anderen geleakten Papier habe der Befehlshaber der Regimetruppen in der Provinz Mazandaran im Norden Irans am 23. September seinen Untergebenen befohlen, „gnadenlos, bis hin zur Verursachung von Todesfällen, gegen jede Art von Unruhen durch Randalierer und Anti-Revolutionäre vorzugehen“, so die Menschenrechtsorganisation. Amnesty dokumentierte nach eigenen Angaben den Tod von 52 Frauen, Männern und Kindern aufgrund des Handelns der Sicherheitskräfte, aber die Gesamtzahl sei wahrscheinlich höher. Die Organisation Iran Human Rights (IHR) mit Sitz in Oslo zählte zuletzt 83 Todesopfer bei den Protesten.
Internationale Gemeinschaft muss unverzüglich und entschlossen handeln
Hintergrund der Demonstrationen ist der Tod der 22-jährigen Jina Mahsa Amini. Die Moralpolizei hatte sie wegen ihres angeblich „unislamischen Outfits“ in Teheran festgenommen. In einem Revier wurde sie im Verlauf einer „Belehrung“ durch die Sittenbehörde so massiv misshandelt, dass sie drei Tage später in einem Krankenhaus für tot erklärt wurde. Seitdem demonstrieren landesweit Tausende gegen den repressiven Kurs des herrschenden Klerus und das System der Islamischen Republik. Amnesty erklärte: „Die internationale Gemeinschaft muss unverzüglich und in aller Entschlossenheit handeln, um zu verhindern, dass noch mehr Menschen getötet und verletzt werden, nur weil sie für ihre Freiheit, ihre Würde und ihre Menschenrechte auf die Straße gehen.“ Eine Niederschlagung der Proteste wie im Jahr 2019 dürfe sich nicht wiederholen. Damals wurden bis zu 1.500 Menschen getötet, ohne dass die iranische Führung dafür jemals zur Verantwortung gezogen wurde.
Weitere Tote und Verletzte in Sistan-Belutschistan
Derweil werden aus Sistan-Belutschistan weitere Tote und Verletzte gemeldet. In Zahedan, der Hauptstadt der an Pakistan und Afghanistan grenzenden Provinz im Südosten des Landes, war es gestern nach dem Freitagsgebet zu massiven Übergriffen iranischer Sicherheitskräfte auf Protestierende gekommen. Aktivist:innen sprachen zunächst von 36 Toten und mehr als 50 Verletzten. Inzwischen gehe man jedoch von 58 Todesopfern sowie 270 Verwundeten aus. Nach Meldungen iranischer Staatsmedien wurden 19 Menschen getötet. Unter ihnen sei auch Ali Mussawi, ein Oberst der Revolutionsgarden, sagte Regionalgouverneur Hossein Chiabani. Mussawi sei in der Provinz für die Geheimdienste zuständig. 20 Menschen seien bei den Unruhen verletzt worden. Nach Angaben des regionalen Polizeichefs Achmed Taheri wurden drei Polizeistationen angegriffen.
Politiker der belutschischen Minderheit: „Eine Stadt im Krieg“
Der Fernsehsender Iran International, ein Medium der iranischen Exil-Opposition mit Sitz in London, strahlte Filmaufnahmen vom Freitag aus Zahedan aus, die offensichtlich Polizisten dabei zeigen, wie sie mit Schusswaffen auf Männer feuern, die eine Polizeiwache mit Steinen angreifen. Zu sehen waren auch Männer mit blutenden Wunden, die auf Tragen lagen. Habibollah Sarzabi, Generalsekretär der Nationalen Solidaritätspartei Belutschistans, sprach von „massakerartigen Übergriffen“ durch Irans Sicherheitskräfte und einer „Stadt im Krieg“. Die Trupps des Regimes hätten mit Maschinengewehren auf die Menschen gezielt – teilweise aus Hubschraubern, die im Tiefflug über der Stadt kreisten. Kurdische Organisationen haben indes für heute zu einem zweiten Generalstreik aufgerufen und angekündigt, die Proteste gegen das Regime fortzusetzen.