„Das Mullah-Regime kann die Frauenrevolution nicht eindämmen“

Iran und Ostkurdistan befinden sich nach dem Mord an Jina Mahsa Amini durch die „Sittenpolizei“ in Teheran im Aufstand. Dr. Kamran Matin von der Sussex University berichtet von der Führungsrolle der Frauen und der Situation im Iran.

Der Aufstand in Iran und Ostkurdistan nach dem Mord an Jina Mahsa Amini dauert nun schon seit 13 Tagen an. Im Nachrichtenportal BIANET äußert sich der Iran-Experte Dr. Kamran Matin von der University of Sussex in Großbritannien zu den Entwicklungen in der Region. Seine Doktorarbeit hatte er über die iranische Erfahrung von Moderne und Revolution geschrieben. Seit 2007 ist er Dozent am Fachbereich für internationale Beziehungen an der Universität Sussex.

„Die Führungsrolle der Frauen ist beispiellos für Iran nach Revolution“

Im Moment erleben wir einen Aufstand gegen die Eingriffe durch das iranische Regime in das tägliche Leben. Haben Sie so eine Entwicklung erwartet?

In Anbetracht der verschiedenen Formen der täglichen Repression und Unterdrückung im Iran würde man immer erwarten, dass es zu Protesten der Bevölkerung kommt. In der Tat gab es in Iran immer wieder Proteste, zuletzt im Jahr 2019, bei denen 1500 unbewaffnete Demonstranten getötet wurden.

Das Ausmaß, die Ausbreitung und die Dauer der aktuellen Proteste waren jedoch für die meisten Menschen, auch für mich, unerwartet. Noch wichtiger ist, dass die zentrale und führende Rolle der Frauen bei den derzeitigen Protesten im Iran nach der Revolution beispiellos ist.

Was ist Ihrer Meinung nach der wichtigste Punkt, der die Menschen in Iran auf die Straßen treibt?

Seit der Gründung der Islamischen Republik im Jahr 1979 werden Frauen in Iran unterdrückt. Die Unterdrückung der Frauen wurde durch das islamische Recht legalisiert, das unter anderem den Kopftuchzwang („angemessene Kleidung“) vorsieht. Das Kopftuch wurde den Frauen im gesamten Iran gewaltsam aufgezwungen. Die meisten Frauen haben die Erfahrung gemacht, von der sogenannten „Sittenpolizei“, genauer gesagt der „Hijab-Polizei“, belästigt, festgenommen oder geschlagen zu werden. Das Kopftuchzwang wurde so zum Symbol für den extrem antidemokratischen Charakter der Islamischen Republik.

Jin, Jiyan, Azadî ist ein positiver, integrativer Slogan“

Was bedeutet in diesem Zusammenhang die Parole „Jin, Jiyan, Azadî“?

Der wichtigste Punkt ist, dass dieser Aufstand im Gegensatz zu früheren Protesten ein klares strategisches, positives Motto hat: „Frauen, Leben, Freiheit“, „Jin, Jiyan, Azadî“. Dieser Slogan hat seinen Ursprung in der kurdischen Bewegung in der Türkei und hat sich im Widerstand gegen den IS in Syrien weiterentwickelt. Er mobilisierte in einzigartiger Weise verschiedene gesellschaftliche Gruppen, die ihre Wut über drei Hauptformen der Unterdrückung in der Islamischen Republik zum Ausdruck brachten: Unterdrückung der Geschlechter, sozioökonomische Ungleichheit und politische Unterdrückung von Einzelpersonen und nationalen „Minderheiten“ wie den Kurden. Die Kurdinnen und Kurden haben seit der Gründung der Islamischen Republik im Jahr 1979 eine führende Rolle in der Opposition gegen diese gespielt. Der Grund, warum der Slogan „Jin, Jiyan, Azadî“ sowohl Männer als auch Frauen aus allen Gesellschaftsschichten anspricht, liegt in seiner integrativen und positiven Ausstrahlung.

Welchen Zweck verfolgen die „Irshad-Patrouille“ und die „Sittenpolizei“, und erhalten sie Unterstützung in der Bevölkerung in Iran?

Zweck der „Irshad-Patrouille“ war es, die Kopftuchpflicht durchzusetzen. Sie wurde von einer kleinen Minderheit unterstützt, entweder wegen ihres religiösen Konservatismus oder wegen ihrer Verbindungen zum Regime oder wegen beidem.

Jede Frau im Iran ist politisch“

Glauben Sie, dass die Mehrheit der Frauen im Iran politisch ist?

Jede Frau im Iran ist per Definition „politisch", da der Staat strategisch auf der Kontrolle des weiblichen Körpers und des Verhaltens im öffentlichen Raum basiert. Ich denke, dass die Frauen bei den aktuellen Protesten eine führende und zentrale Rolle spielen.

Niemand glaubt der Propaganda des Regimes“

Es gibt Anschuldigungen von iranischen Staatsbeamten gegen „ausländische Mächte“, hinter den Protesten zu stehen. Glauben die Menschen das?

Niemand glaubt der Propaganda des Regimes in dieser Frage, und die soziale Basis des Regimes, die, wie ich bereits erwähnt habe, eine sehr kleine Minderheit ist, scheint jeden Tag zu schrumpfen. Die Proteste gehen weiter.

Die Frage ist, wie sich diese Aktionen auf das derzeitige iranische Regime auswirken werden. Berichten zufolge sind die Sicherheits- und Polizeikräfte erschöpft und nicht mehr in der Lage, den Protest einzudämmen, wenn er weitergeht.

Polizei ist erschöpft“

Das könnte dann zum Einsatz weiterer Sicherheitskräfte führen. Dies ist jedoch riskant, da es zu Spaltungen innerhalb der Sicherheitskräfte und sogar innerhalb des Regimes selbst führen könnte.

Eine solche Entscheidung muss auf höchster Ebene getroffen werden, doch Berichten zufolge ist der oberste Führer Khamenei schwer erkrankt, was bedeutet, dass das Regime an einer „Krankheit“ der Entscheidungsfindung leiden könnte. Es gibt auch Berichte, die darauf hindeuten, dass das Regime eine Lockerung des Kopftuchgesetzes und eine Einschränkung oder Abschaffung der „Irshad-Patrouille“ in Betracht ziehen könnte.

Mögliche Befriedung durch Atomabkommen“

Das Regime weigert sich jedoch, diese Änderungen jetzt vorzunehmen, weil es sich angesichts der Proteste geschlagen geben würde.

Das Regime könnte auch beschließen, sich mit den USA und dem Westen auf eine Wiederbelebung des iranischen Atomabkommens zu einigen, damit Iran Ressourcen zur Lösung einiger wirtschaftlicher Probleme erhält. Dies könnte die wirtschaftliche Lage in gewissem Maße verbessern, so dass sich diejenigen, die über die Armut verärgert sind, sich von den Protesten zurückziehen könnten.

Das Regime kann die Energie der Frauenrevolution nicht eindämmen“

Was möchten Sie noch hinzufügen?

Das Regime hat noch nicht zu seiner üblichen maximalen Gewaltanwendung gegriffen, um die Proteste der Bevölkerung zu unterdrücken, wie es bei den Protesten 2019 der Fall war, bei denen fast 1.500 Demonstranten getötet wurden.

Doch selbst wenn es gelingt, die anhaltenden Proteste zu unterdrücken, dürfte Iran kaum in der Lage sein, die enorme politische Energie der Frauenrevolution für lange Zeit einzudämmen.