Trotz mindestens 76 von Sicherheitskräften getöteten Aktivist:innen und Tausenden Festnahmen geht der Aufstand in Ostkurdistan und Iran nach dem Tod der Kurdin Jina Mahsi Amini weiter. Amini war wegen eines „falsch“ getragenen Kopftuchs von der Sittenpolizei festgenommen und misshandelt worden. Sie kollabierte bei der Polizei und verstarb im Krankenhaus. Dieser tödliche Übergriff brachte in Ostkurdistan und Iran das Fass zum Überlaufen. Eine regelrechte Volksbewegung unter Führung der Frauen ruft zum Sturz des Mullah-Regimes auf. Im Interview mit der Nachrichtenagentur Mezopotamya äußert sich der Direktor von Iran Human Rights (IHR), Mahmood Amiry Moghaddam, zu den schweren Übergriffen des Regimes auf Protestierende: „Man wollte die Motivation der Aktivist:innen zerstören und ihre Moral brechen. Das ist bisher nicht gelungen.“
„Vermutlich weit über 1.500 Tote bei Aufstand 2019“
In Iran gab es bereits 2019 einen Aufstand. Damals wurde ebenfalls die Internetverbindung unterbrochen. In den Medien war von 1.500 Toten damals die Rede. Können Sie etwas zu diesen Zahlen sagen?
Während der Proteste im November 2019 erklärte eine anonyme Person, die angab, ein iranischer Beamter zu sein, gegenüber Reuters, dass 1.500 Menschen getötet worden seien. Reuters hat diese Informationen auf der Grundlage dieser Quelle veröffentlicht. Uns als IHR und Amnesty International ist es uns gelungen, den Tod von einigen hundert Menschen zu bestätigen. Es gibt jedoch viele Familien, die zu uns oder anderen Vereinigungen in verschiedenen Städten kommen und berichten, dass ihnen gedroht wird, nicht über ihre getöteten Angehörigen zu sprechen. Unsere Recherche zu den Protesten im November 2019 hat uns zu dem Schluss gebracht, dass die tatsächliche Zahl viel höher als 1.500 liegt. Aufgrund von Kommunikationsbeschränkungen, Drohungen des iranischen Regimes gegen Familienangehörige, gegen Menschenrechtsverteidiger:innen und Journalist:innen mit Schwerpunkt auf Menschenrechten sowie der Gefahr für unser eigenes Leben ist es jedoch sehr schwierig, die tatsächliche Zahl zu ermitteln. Diese liegt jedoch deutlich über den 328, die unsere Organisation feststellen konnte, sowie über den 324, die Amnesty International bestätigen konnte. Sogar die iranischen Behörden selbst gaben zu, dass 200 Menschen getötet worden waren, und sagten dies selbst im Fernsehen. Es ist jedoch nicht bekannt, von wem diese 200 Menschen getötet wurden. Leider ist dies eine Situation, an die die Menschen in Iran gewöhnt sind. In Iran gibt es keine Rechenschaftspflicht für Verbrechen, an denen Staatsbeamte beteiligt sind. Sie sind vollständig durch einen Panzer der Straflosigkeit geschützt.
„Internationale Kampagnen verhinderten Vollstreckung von Todesurteilen“
Während der Proteste im November 2019 gab es auch viele Verhaftungen. Konnten Sie das Schicksal dieser Inhaftierten verfolgen? Wurden einige von ihnen hingerichtet? Sind einige von ihnen noch im Gefängnis?
Ja, Tausende von Menschen wurden verhaftet. Die meisten von ihnen wurden innerhalb weniger Monate freigelassen. Als Gegenleistung für ihre Freilassung wurden ihnen Kautionen oder andere gerichtliche Kontrollmaßnahmen auferlegt. Wir wissen nicht genau, wie viele Menschen derzeit wegen dieser Proteste inhaftiert sind, aber wir wissen, dass einige der bei den Protesten im November 2019 festgenommenen Personen immer noch in Haft sind. Auch hier wurden einige der im Zuge dieser Proteste Verhafteten zum Tode verurteilt. Keine von ihnen wurde jedoch hingerichtet. Es wurden große internationale Kampagnen organisiert, um die Hinrichtung der fünf damals zum Tode verurteilten Personen zu verhindern. Der politische Preis für die Hinrichtung dieser Personen wäre zu hoch gewesen und das Regime hat es nicht gewagt, dies zu tun.
„Die Menschen lassen sich nicht einschüchtern und demotivieren“
Derzeit gibt es eine umfassende Sperrung des Internet. Das schürt die Besorgnis, dass etwas ähnliches wie 2019 geschehen wird. Was denken Sie?
Es gibt zwei Gründe, warum man das Internet abgeschaltet hat. Erstens wollte man verhindern, dass die Verbrechen, die man hier begeht, bewiesen und mit Berichten und Videos in die Welt getragen werden. Aber es gibt noch einen wichtigeren Grund: Man versucht, eine Botschaft an die Demonstrant:innen zu senden. Man versucht ihnen zu sagen: ,Niemand euch, niemand sieht euch, wir können mit euch machen, was wir wollen'. So will man die Protestierenden demotivieren und demoralisieren. Bislang ist ihnen dies nicht gelungen. Das Internet ist seit Tagen ausgefallen, aber die Straßen werden immer voller statt leerer. Natürlich haben wir ernsthafte Bedenken, dass die Polizeigewalt zunehmen wird, solange die Proteste andauern.
„Wir wissen, dass man die Gefangenen foltern wird“
Was können Sie als Menschenrechtsorganisation, die viel Erfahrung mit der Beobachtung von Rechtsverletzungen in Gefängnissen hat, über das Schicksal der bei diesen Protesten Festgenommenen sagen?
Wir wissen aus unserer Erfahrung, die wir bei der Beobachtung der Situation von bei früheren Protesten Festgenommenen gewonnen haben, dass sie alle Arten von Gewalt und Repression anwenden werden. Wir wissen, dass man die Gefangenen foltern wird. Auf diese Weise versucht man, die Festgenommenen dazu zu zwingen, zu sagen, dass sie für alles, was sie tun, finanzielle Unterstützung und Befehle aus dem Ausland hätten. In solchen Situationen will das iranische Regime der Welt stets weismachen, dass für die Menschen in Iran alles in Ordnung ist, dass solche Situationen von ,ausländischen Mächten' produziert werden, und sie nutzen jedes Mittel, um dies zu erreichen. Dieses Mal werden sie Druck auf die Festgenommenen ausüben und versuchen, sie zu dieser Aussage zu bewegen. Iran ist für Folter und Misshandlungen bekannt. Das ist leider eine Situation, mit der wir rechnen müssen.
„Mit Hinrichtungen soll die Gesellschaft eingeschüchtert werden“
Iranische Menschenrechtsorganisationen und viele von uns verfolgten Quellen haben berichtet, dass zu Beginn der Proteste viele Gefangene, die in der Todeszelle saßen und auf ihre Hinrichtung warteten, kurzerhand, insbesondere in der letzten Woche, hingerichtet wurden. Stimmt das? Wenn ja, was könnte der Grund dafür sein?
Als die Proteste begannen, gab es einen Anstieg der Hinrichtungen, ja. Wir haben keine klaren Informationen darüber, was im Moment passiert. Aber im Allgemeinen kann man sagen, dass die iranische Regierung Hinrichtungen einsetzt, um der Gesellschaft Angst einzujagen und Proteste zu verhindern. Andererseits funktioniert das, wie ich bereits sagte, nicht mehr. Obwohl die Zahl der hingerichteten Personen zunimmt, nehmen die Menschen weiterhin an Protesten teil. Aber der Hauptgrund für die Zunahme der Hinrichtungen ist, wie ich schon sagte, Angst in der Bevölkerung zu schüren.
„Schwer verletzte Demonstrant:innen werden ins Gefängnis gebracht“
Wie ist die Situation der Verletzten? Können sie in die Krankenhäuser gehen? Wir haben erfahren, dass die Polizei Verletzten im Krankenhaus auflauert. Weiterhin haben wir von Berichten aus dem Gesundheitswesen über sehr hohe Zahlen von Toten und Verletzten gehört.
Leider hält sich Iran nicht an die internationalen Konventionen und Verpflichtungen. Zusätzlich zu diesen Berichten haben wir auch Berichte erhalten, dass die Sicherheitskräfte Krankenwagen zum Transport von Polizeieinheiten und Munition nutzen und diese Fahrzeuge sogar als Gefangenentransporter einsetzen. Es gibt auch Informationen, dass die in Krankenwagen transportierten Verwundeten nicht in Krankenhäuser, sondern an andere Orte gebracht werden. In Iran sind die Krankenhäuser bei solchen Protesten immer voller Polizei. Sie verhören die Verwundeten, die ins Krankenhaus gebracht werden, noch bevor sie behandelt werden, und drohen den Ärzten und Krankenschwestern, keine Informationen an die Außenwelt weiterzugeben. In vielen Fällen wurden schwer verletzte Demonstranten ohne jegliche Behandlung ins Gefängnis gebracht.
„Internationale Öffentlichkeit gibt den Menschen auf der Straße Mut“
Haben Sie als Menschenrechtsorganisation, die in Iran tätig ist, eine Botschaft an die internationale Gemeinschaft und an die journalistische Öffentlichkeit?
Derzeit sind alle Institutionen und Organisationen, die sich für Menschenrechte in Iran einsetzen, bedroht – kurz gesagt: alle, die eine Arbeit leisten, die der iranischen Regierung nicht gefällt. Daher wissen wir, dass es zu Situationen wie der Schließung von Websites, Cyberangriffen oder Verhaftungen kommen kann, und wir versuchen, alle Vorsichtsmaßnahmen dagegen zu treffen. Aber manchmal reichen die Maßnahmen nicht aus. Daher lautet unsere Botschaft an die internationale Gemeinschaft und an Journalistinnen und Journalisten wie folgt: Wer Informationen über die Geschehnisse vor Ort hat, möge diese bitte an uns oder an Organisationen wie Hengaw und KHRN über unsere Social-Media-Accounts weiterleiten. Es gibt Tausende von Iraner:innen außerhalb des Landes, deren Angehörige hier auf der Straße sind und die möglicherweise Informationen haben. Teilen Sie diese Informationen mit uns und den Journalist:innen. Dies ist äußerst wichtig, um denjenigen eine Stimme zu geben, die auf der Straße Widerstand leisten. Die iranischen Behörden haben das Internet abgeschaltet, weil sie nicht wollen, dass ihre Stimme gehört wird. Sie wollen die Botschaft vermitteln, dass einen niemand hören und niemand sehen wird. Sie wollen sagen, dass sie tun können, was sie wollen. Aber wenn die Medien über den Widerstand berichten, gibt das den Menschen auf der Straße eine große Moral und Motivation und außerdem ist es eine Warnung an das iranische Regime. Die Welt beobachtet sie und sagt, dass sie eines Tages für das, was sie getan haben, bezahlen werden.