Aktivistinnen berichten in Hamburg: „Rojava unter Dauerfeuer“

Drei Referentinnen aus der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien haben auf der Veranstaltung „Rojava unter Dauerfeuer“ in Hamburg über die von Angriffen der Türkei und des IS geprägte Lage der Bevölkerung und der Frauenstiftung WJAS berichtet.

Unter dem Titel „Rojava unter Dauerfeuer“ fand am Mittwoch in Hamburg im Tatort Kurdistan Café eine mit knapp 50 Personen recht gut besuchte Veranstaltung statt. Eingeladen von der Kurdistanhilfe e.V. und dem Europakomitee der Frauenstiftung WJAS wurden drei Aktivistinnen aus Rojava digital zugeschaltet, um über die aktuelle Situation zu berichten.

Seit sechs Jahren im „Low Intensity“-Krieg

Zunächst gab Stera vom Dachverband der Frauenorganisationen in Nordostsyrien (Kongra Star) einen Überblick über die Gesamtsituation. Aufgrund der Annäherung zwischen der Türkei und der syrischen Regierung und vielen anderen Anzeichen rechne die Selbstverwaltung in der nordostsyrischen Autonomieregion weiterhin mit der Umsetzung der angedrohten Bodenoffensive, möglicherweise schwerpunktmäßig gegen Kobanê. Die Bevölkerung sei vorbereitet und habe zahlreiche Schutzmaßnahmen getroffen, wie zum Beispiel den Ausbau von Kellern und Tunnelsystemen.

Durch die Angriffe auf die Strom-, Gas- und Ölversorgung sowie die ohnehin eingeschränkte Wasserversorgung gebe es große Probleme im Alltag. Strom sei beispielsweise nur vier Stunden am Tag über gemeinschaftlich genutzte Generatoren verfügbar. Das ganze Land sei mit Baustellen überzogen. Wegen des Baustoffmangels müsse bei den Reparaturen improvisiert werden.

Die Menschen in Rojava lebten seit sechs Jahren in dieser Situation eines mehr oder weniger heftig geführten „Low Intensity“-Krieges. Sie ließen sich davon nicht klein kriegen und täten alles dafür, ihre Existenzgrundlage zu verteidigen. Kraft geben ihnen auch die Solidaritätskundgebungen in Europa, vor allem die Stärke der kurdischen Gemeinden im Exil. Nachdrücklich gegen die Kriminalisierung der politisch aktiven Kurden und in Kurdinnen einzutreten, sei ein wichtiger Wunsch aus Rojava an die europäisches Solidaritätsbewegung, so die Referentin.

Auswirkungen auf die Frauenstiftung WJAS

Nach einer Einleitung über die Geschichte der Stiftung der Freien Frau in Syrien (WJAS) und ihre vielfältigen Aktivitäten in den Bereichen Bildung (auch Erwachsenenbildung, berufliche Bildung) und Gesundheit mit Ausbildungs- Präventions- und Beratungsangeboten folgte ein Beitrag von Sultan Xişo vom Vorstand der Frauenstiftung.

Sie berichtete, wie die rund 150 Mitarbeiterinnen der Frauenstiftung unter den schwierigen Bedingungen dennoch versuchen, ihre Projektarbeit fortzuführen. Während der Bombardierungen musste der Unterricht mit den Kindern zeitweise einzeln erfolgen, aus Sicherheitsgründen sind viele Projekte in Keller verlegt worden. Im Fall einer Bodenoffensive würde das aber nicht ausreichen, dann müssten zum Beispiel die Kinder aus dem Waisenhaus in Kobanê an weiter entfernte Orte evakuiert werden.

Anhand von Sultans Schilderungen wurde deutlich, dass die gesellschaftlichen Strukturen in Rojava mit ihrer kooperativen Lebensweise – so auch die Möglichkeiten, die die Frauenstiftung geschaffen hat – einen Zusammenhalt unter den Frauen und allen Menschen erzeugt hat, der es ihnen möglich macht, die permanenten Bedrohungen auszuhalten. Diese Strukturen müssen unbedingt aufrecht erhalten werden. Was zurzeit am dringendsten für die Arbeit der Stiftung gebraucht wird, sei Geld für Stromgeneratoren und für Autos, mit denen im Notfall eine schnelle Evakuierung umsetzbar ist.

Perspektive der YPJ International

Als letzte Rednerin stellte Heval Raperîn die Situation aus Sicht der internationalistischen Frauenverteidigungseinheiten (YPJ International) dar. Sie führte anschaulich vor Augen, dass die Selbstverwaltung mit über 65.000 Menschen aus dem IS-Umfeld umgehen müsse, 8000 davon stammten aus Europa und der ganzen Welt. 12.000 IS-Mitglieder befinden sich in speziellen Sicherheitseinrichtungen, die anderen vornehmlich in Camp Hol. Es seien Rehabilitationszentren für Kinder aus IS-Familien eingerichtet worden, um diesen Werte der Menschlichkeit zu vermitteln und ihnen eine halbwegs normale Kindheit zu ermöglichen. Es fehlten jedoch die notwendigen Mittel, um diesen Ansatz systematisch zu verfolgen. Es sei sehr schwierig, im Lager annehmbare Bedingungen herzustellen. Bei einer großen Sicherheitsoperation im Sommer 2022 seien Folterwerkzeuge sichergestellt und zwei ezidische Sklavinnen befreit worden. Es wird vermutet, dass sich immer noch Tausende von Ezidinnen – nicht nur in Rojava – in der Gewalt von Islamist:innen befinden, weil sie so erniedrigt und einer Gehirnwäsche unterzogen worden sind, dass sie von sich aus nicht in der Lage sind, sich zu erkennen zu geben.

Die Bombardierung der Türkei habe verhindert, dass weitere Sicherheitsoperationen in Camp Hol durchgeführt werden konnten. Es gebe klare Hinweise auf eine Kooperation zwischen türkischem Geheimdienst und den IS-Gefangenen in Rojava. Mit eigenen Augen habe sie gesehen, wie viele Frauen in Camp Hol die tödlichen Angriffe der türkischen Luftwaffe gegen Sicherheitskräfte des Lagers gefeiert haben, erklärte Heval Raperîn. Jugendliche, die erfolglos versucht haben, im Schutz der Luftangriffe aus Camp Hol zu fliehen, hätten von einem Telefonanruf berichtet, der die Luftangriffe angekündigt und sie ermutigt habe, genau dann loszulaufen.

Heval Raperîn machte eindringlich deutlich, dass die Sicherheitslage in den IS-Lagern höchst gefährdet ist. Wenn die Angriffe der Türkei massiver werden, müssten im schlimmsten Fall die Selbstverteidigungskräfte dort abgezogen werden. Zigtausend geflohene Islamist:innen seien dann nicht nur für Rojava ein Problem.

Auf eine Bodenoffensive seien YPG und YPJ sehr gut vorbereitet – den Luftangriffen hätten sie jedoch wenig entgegenzusetzen. Von der europäischen Solidaritätsbewegung wünschten sie sich deshalb eine lautstarke Unterstützung der Forderung nach Errichtung einer Flugverbotszone über Nordsyrien.

Zu verstärkten Aktivitäten motiviert

In der Einleitung zur Veranstaltung wurde das Ziel formuliert, dass die Beiträge der drei Aktivistinnen aus Rojava „uns, die wir hier sitzen, ermöglichen, noch mehr, noch überzeugender, noch authentischer Öffentlichkeit herzustellen, denn die Presse schweigt, mit ein paar Ausnahmen. Und es gibt in Hamburg, in Deutschland und Europa immer noch erschreckend viele Menschen – die allergrößte Mehrheit, leider! -, die rein gar nichts über Rojava wissen: weder über das seit zehn Jahren umgesetzte basisdemokratische Gesellschaftsmodell noch über die Revolution der Frauen, und auch nichts über den zermürbenden, schrecklichen und völkerrechtswidrigen Krieg der Türkei. Angesichts der zugespitzten Situation ist es noch mal besonders unsere Aufgabe, alles was wir wissen und was wir heute noch dazu erfahren werden, an die Menschen in unserem jeweiligen Umkreis weiterzugeben.“

Durch ihre anschaulichen, authentischen und von klarer Analyse geprägten Beiträge haben die drei Rednerinnen viel dazu beigetragen, die Zuhörer und Zuhörerinnen in diesem Sinne zu verstärkten Aktivitäten zu motivieren. Sie wurden mit großem Applaus verabschiedet.