Zurzeit führt die Türkei eine groß angelegte Angriffswelle gegen die Gebiete der Autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens (AANES) durch, im Visier befinden sich vor allem die Zivilbevölkerung und die zentrale Infrastruktur. Seit Monaten droht Erdogan mit einer weiteren Bodeninvasion in der auch als Rojava (Westkurdistan) bekannten Region. Ich nutze diese Gelegenheit, um die Situation der letzten Monate aus meiner Perspektive als Internationalistin aus Deutschland zu beschreiben.
„Krieg geringer Intensität“ bedeutet permanenter Krieg
Die Erde bebt leicht von den Bombardierungen der Nachbardörfer, ein entferntes Dröhnen ist zu hören. Wir sind in unseren Stellungen, bereit zur Verteidigung, falls nötig. Später in den Nachrichten erfahren wir von den Kindern, die in dem nahegelegenen Dorf getötet wurden. Vier Kinder. Wie die vielen, die wir auf den Straßen herumlaufen sahen, die Schafe und Ziegen hüteten oder Gruppenspiele spielten. Nun hat der Feind sie getötet, sie sind gefallen durch Bomben, die die Türkei über die Grenze schickte, in einem Krieg, der darauf abzielt, die kurdische Gesellschaft und das Leben und die Kultur der anderen ethnischen Gruppen in der Region zu zerstören. Er richtet sich gegen die Freiheitsbewegung, den Kampf für einen demokratischen Nahen Osten und gegen die Selbstverwaltung des Volkes, gegen das noch bestehende gemeinschaftliche Dorfleben. Die Türkei zielt darauf ab, dieses Land zu entvölkern, wobei die ständige Tötung von Kindern die Gesellschaft an ihrer verwundbarsten Stelle trifft. Mit dem Beschuss der Infrastruktur und der Häuser, ohne allzu viele menschliche Opfer zu verursachen, will die Türkei die Menschen aus den Dörfern, in die sie als Nächstes eindringen will, vertreiben und diese Dörfern unbewohnbar machen, ohne dabei zu viel weltweite Aufmerksamkeit zu erregen. Kontinuierliche so genannte Kriegsführung niedriger Intensität – das bedeutet, dass der Krieg immer präsent ist, immer eine unterschwellige Bedrohung darstellt.
Der Wasserkrieg und die wirtschaftliche Kriegsführung
Als YPG- und YPJ-Einheiten sind wir auf den Einmarsch der türkischen Armee und ihrer Söldner vorbereitet, warten darauf, während Erdogan damit begonnen hat, das Gebiet massiv mit Flugzeugen zu bombardieren. Aber je mehr Zeit ich in der Region verbracht habe, desto mehr verstehe ich die Komplexität des Krieges, den die Türkei gegen die kurdische Gesellschaft, gegen die Menschen im Nahen Osten führt. Vor allem der Wirtschaftskrieg ist für alle Menschen in der Autonomieregion präsent. Das Embargo macht alles teurer und schwieriger zu bekommen, obwohl die Autonomieverwaltung Grundbedürfnisse wie Diesel und Brot subventioniert, um die Preise niedrig zu halten. Die materielle Situation in der selbstverwalteten Region ist im Allgemeinen viel besser als im Assad-kontrollierten Teil Syriens. Der Autonomieverwaltung ist es in den letzten Jahren gelungen, Produktionsstätten für einige Grundbedürfnisse aufzubauen – zu Zeiten des Regimes war das Gebiet eher ein Ressourcenpool in kolonialer Manier, so dass es fast keine Produktionsstätten gab. Aufgrund des Embargos ist es jedoch sehr schwierig, die notwendigen Maschinen zu bekommen.
Der türkische Staat spielt seit Jahren seine Macht an den Grenzen zur Türkei und nach Südkurdistan sowie an den Staudämmen aus, um die Selbstverwaltungsbemühungen zu sabotieren. Gerade in diesem Jahr sind die Wasserstände wieder gesunken und Wasser ist in einigen Gebieten zum Luxus geworden, während sich Krankheiten ausbreiten. Auf diese Weise versucht die Türkei, ein menschenwürdiges Leben unmöglich zu machen, und die Menschen müssen täglich unter Entbehrungen leiden. All dies sind die alltäglichen Auswirkungen des türkischen Krieges, die noch weniger sichtbar sind als der ständige Beschuss der Grenzregionen.
Krieg der Informationen
Dann kommt die permanente Sonderkriegsführung hinzu, um die Köpfe der Menschen mit Unmengen von falschen Informationen zu manipulieren. Ich wusste davon, aber dennoch hat es mich mit Wut und Erstaunen erfüllt, wie unverblümt die mit der Türkei verbundenen Medien lügen, d.h. aktiv ihre Lügen über Fernsehsender wie Rudaw TV und andere verbreiten. Als zum Beispiel der Aufstand im IS-Gefängnis in Hesekê Anfang des Jahres stattfand, sagten der Rudaw-Kanal und andere die Türkei unterstützende Medien, dass diese Gefangenen nicht zum IS gehörten und sich nur gegen die harten Bedingungen im Gefängnis aufgelehnt hätten und dass die PKK dies als Chance für einen weiteren Völkermord nutze... Auf solch grundlegende Art und Weise lügen sie, während die Türkei den Ausbruch von IS-Mitgliedern mit Luftangriffen auf Selbstverteidigungskräfte, die zu den Kämpfen unterwegs waren, aktiv unterstützt hat. Viele der Waffen, die beim IS im Gefängnis gefunden wurden, waren NATO-Waffen, und das Ziel der ausgebrochenen Islamisten war es, in die von der Türkei besetzten Gebiete zu gelangen, wo sie sich neu organisieren.
Wie sehr die Türkei direkt Befehle erteilt und alle islamistischen Banden einschließlich der Aktivitäten des IS in diesem Gebiet finanziert, habe ich erst verstanden, als ich hier in Rojava war. In den westlichen Ländern wird dieses Thema angesichts der massiven Unterstützung, die die Türkei immer noch von der EU erhält, gerne ignoriert. Nach Aussagen von IS-Mitgliedern, die von den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) verhaftet wurden, kontrolliert der türkische Geheimdienst im Grunde Schläferzellen in ganz Nordostsyrien und gibt ihnen Anweisungen sowie materielle und personelle Unterstützung. Aber das ist ein Thema für einen weiteren Artikel (für weitere Informationen siehe z.B. Interviews mit YPJ-Kommandantinnen auf dem youtube-Kanal von YPJ Info mit englischen Untertiteln).
Manipulation findet auch auf viel subtileren Wegen statt, indem Diffamierungen gegen die Selbstverwaltung verbreitet werden und versucht wird, die Stimmung in der Bevölkerung über soziale Medien und Agent:innen in der Gesellschaft zu beeinflussen. Und in diesen Zeiten wird den Menschen ein bequemer Weg nach Europa versprochen, wo die Not ein Ende haben würde. Die islamistischen Banden in den besetzten Gebieten werden als Schmuggler eingesetzt, sie wollen aus dem von ihnen verursachten Elend Profit schlagen.
Das Ziel der Türkei: Vertreibung der Bevölkerung
Auf diese Weise plant die Türkei, das Gebiet von der kurdischen Bevölkerung zu „säubern“, die sie insgesamt als potentielle Bedrohung für ihre eigenen imperialen Pläne ansieht (wie kürzlich erneut eine Äußerung Erdogans zeigte, in der er die gesamte kurdische Bevölkerung in der Türkei als Terroristen bezeichnete), und ein Gebiet zu schaffen, um die Hunderttausende von geflüchteten Menschen aus Syrien und anderen Ländern, die in den letzten Jahren in die Türkei kamen, dort anzusiedeln. Zur Realität in den besetzten Gebieten um Efrîn, Girê Spî und Serêkaniyê hat das Rojava Information Center mehrere detaillierte Berichte auf Englisch verfasst. Und ich habe noch nicht einmal über die Dutzende von Drohnenangriffen der Türkei in den letzten Monaten geschrieben, mit denen die engagiertesten Menschen getötet und versucht wurde, die Köpfe und Herzen der Revolution zu vernichten, ohne zu verstehen, dass die Moral und der Kampfgeist der Revolution mit jedem dieser Angriffe noch stärker werden.
Widerstand durch die Welatparêz-Mentalität
Als ich mit Dorfbewohner:innen sprach, schöpften sie viel Motivation aus der Tatsache, dass ich aus Europa hierher gekommen bin, um an ihrer Seite gegen die Türkei und die von ihr gesteuerten islamistischen Banden zu kämpfen und das Land und die Lebensweise zu schützen. Und ich war wirklich beeindruckt von der Radikalität der Familien, die als welatparêz bezeichnet werden und ihr Land schützen. Das bedeutet, das eigene Land wirklich zu verteidigen und nicht zu gehen, wenn der Feind dich einkesselt. Bis zur letzten Kugel zu kämpfen und notfalls dein Leben bei der Selbstverteidigung zu geben.
„Wir haben keine Angst vor euren Bomben, euren Gewehren, wir haben keine Angst, bis in den Tod", sang ein älterer Mann in einem dengbêj-Lied, der traditionellen Art zu singen, ein Großvater von vielen süßen kleinen Mädchen, während wir auf seiner Veranda nicht weit von der türkischen Grenze saßen. Menschen wie er kämpfen gegen die Mentalität des Völkermords und der Besatzung, die Mentalität von Hunderten Jahren der Unterdrückung. Er erzählt von seiner langen Kampferfahrung, von der Zeit der Aufstände (ku: serhildan) in Nordkurdistan, also den kurdischen Gebieten im türkischen Staat, Anfang der 1990er Jahre, an denen er sich beteiligte. Auch über die Zeiten der geheimen Selbstorganisation während der Zeit des Assad-Regimes, und natürlich die Zeit in der Rojava-Revolution nach 2012, seine Teilnahme am Kampf gegen den IS. Und er verbreitet weiter Motivation und gute Laune für die kommenden Kämpfe.
Teil 2 am Freitag: Ein Aufruf