Seit dem 19. November hat die Türkei die Angriffe auf Nord- und Ostsyrien intensiviert. Immer wieder kündigte der türkische Regimechef Erdoğan eine Bodeninvasion und die Besetzung der Region an. Der Ko-Vorsitzende des Büros für Außenbeziehungen der AANES (Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien), Bedran Çiya Kurd, hat sich gegenüber ANHA über die Entwicklungen in diesem Zusammenhang geäußert.
Çiya Kurd wies darauf hin, dass die Angriffe kein Novum seien, sondern schon seit Jahren in unterschiedlicher Intensität erfolgten. Mit Blick auf die neue Angriffwelle seit dem 19. November betonte der außenpolitische Vertreter, dass diese eine neue Qualität habe, da alle Regionen von West nach Ost bis in eine Tiefe von 100 Kilometern hinein attackiert würden.
„Alle Völker der Region sind bedroht“
Insbesondere die Angriffe auf die Infrastruktur seien für die Bevölkerung gefährlich, sagte Çiya Kurd und erklärte, die Zerstörung der Infrastruktur sei eine Rache dafür, dass zumindest bisher kein Bodenangriff möglich gewesen sei. Sie erfolgten nach dem Prinzip: „Wenn kein Landangriff möglich ist, dann mache man eben noch Schlimmeres.“ Der türkische Staat versuche, den Menschen in der Region jede Überlebensmöglichkeit zu nehmen und sie in die Flucht zu treiben. Gleichzeitig versuche der türkische Staat, alle Quellen, auf die sich die Selbstverwaltung und die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) ökonomisch stützen, zu vernichten und so die AANES als „erfolglos und nicht in der Lage, die Bevölkerung zu versorgen“, darzustellen.
Çiya Kurd führte weiter aus: „Die kurdische Bevölkerung ist nicht das einzige Angriffsziel. Fünf bis sechs Millionen Menschen, Geflüchtete aus ganz Syrien eingeschlossen, leben in diesen Gebieten von den Versorgungsstrukturen, die immer wieder angegriffen werden. Es muss klar sein, dass sich die Angriffe gegen alle richten.“
„Der türkische Staat will den IS gegen die Region und die Welt benutzen“
Die türkischen Luftangriffe richteten sich auch gegen Internierungseinrichtungen für IS-Angehörige. Çiya Kurd berichtete dazu: „Viele Personen, die für die Sicherheit dieser Orte verantwortlich waren, wurden bei den Angriffen getötet. Dies ist auch eine Botschaft. Der türkische Staat will IS-Angehörigen die Flucht ermöglichen und die Terrororganisation reorganisieren und stärken. Der IS soll als Druckmittel gegen die Völker der Region und der Welt eingesetzt werden. Es hat sich wieder einmal gezeigt, dass der türkische Staat für den IS verantwortlich ist. Der IS setzt große Hoffnungen in die Angriffe des türkischen Staates. Uns liegen eindeutige Informationen vor, dass der IS Anschläge auf Lager und Gefängnisse parallel zu den Angriffen des türkischen Staates vorbereitet und organisiert. Die Angriffe des türkischen Staates und des IS stehen zueinander in Verbindung.“ Behauptungen des türkischen Staates, man habe IS-Mitglieder getötet oder verhaftet, dienten dazu, die Verbindungen zum IS mithilfe der Medien zu verschleiern.
„Der Anschlag von Istanbul war eine Inszenierung“
Zum Anschlag von Istanbul erklärte Bedran Çiya Kurd, dass dieser als Anlass für eine neue Invasion inszeniert wurde: „Der türkische Staat nahm diese Explosion als Vorwand, um die Region anzugreifen. Das türkische Regime hat mit seinen jüngsten Angriffen sein schmutziges Gesicht unverkennbar gezeigt. Alle haben gemerkt, dass der türkische Staat ein übles Spiel treibt. Viele Parteien und Staaten haben erklärt, dass keine Beweise dafür vorliegen, dass wir die Explosion in Istanbul durchgeführt hätten. Es ist klar, dass der MIT an dem Anschlag beteiligt war. Ebenso ist klar, warum der türkische Staat das Camp Hol und das Jerkin-Gefängnis angegriffen hat. Er wird sich von diesen schmutzigen Verbindungen nicht reinwaschen können.“
„Es geht um einen Genozid, nicht nur um Wahlen“
Zu den Hintergründen der Angriffe kommentierte Çiya Kurd: „Es gibt eine wirtschaftliche, politische und wahltaktische Agenda. Aber es geht in diesem Krieg nicht nur um die Wahlen. Wenn in Folge der Wahlen eine Regierung gebildet wird, wird sich diese gegen den Kampf unseres Volkes richten. Diese Politik wird auf unterschiedliche Weise fortgesetzt. Wir sollten uns also nichts vormachen, es handelt sich hier um eine historische und politische Kontinuität, die weitergehen wird. Deshalb müssen wir, um sie besiegen zu können, einen fundierten und breiten Kampf gegen diese Völkermordmentalität führen."
„Die Koalition und Russland wussten von den Angriffen“
Çiya Kurd sprach auch über die Rolle der internationalen Mächte, insbesondere Russlands und der US-geführten internationalen Anti-IS-Koalition, und führte aus: „Nach unseren Beobachtungen gibt es gemeinsame Zentralen für die Luftraumkoordinierung zwischen diesen Parteien (der Türkei, der Koalition und Russland). Keine Partei kann ein Flugzeug über Syrien fliegen lassen, ohne dass die anderen darüber informiert werden. Die Angriffe folgten den Gesprächen in Teheran, Madrid, Sotschi und insbesondere den Gesprächen in Astana. In der Astana-Gruppe wurden einige Vereinbarungen getroffen, es wurden gemeinsame Ziele festgelegt und eine Zusammenarbeit definiert. Die gemeinsamen Punkte sind die Neutralisierung der Selbstverwaltung und der Gebiete, die von den QSD geschützt werden. In dieser Frage besteht ein Konsens. Die Astana-Gruppe versucht herauszufinden, wie sie das syrische Regime unterstützen kann. Nur der türkische Staat war davon ausgeschlossen. Jetzt gibt es Bestrebungen, ihn in diese Zusammenarbeit einzubeziehen und das Regime zu unterstützen. Es mag einige Meinungsverschiedenheiten geben, aber wir denken, dass die Schwächung der Selbstverwaltung und der QSD ein Punkt ist, in dem sich die Astana-Gruppe einig ist. Das will auch das syrische Regime. Daher haben die in Syrien präsenten Kräfte die Luftangriffe ignoriert. Die USA, Russland und der Iran dürften aus eigenem Interesse keine Bodenangriffe, wohl aber Luftangriffe zulassen.“
„Die Menschen hier haben ihre Stimme, um die Welt erschallen zu lassen“
Bedran Çiya Kurd sagte, die QSD und die Menschen in Nord- und Ostsyrien hätten sich wirksam gegen die Angriffe gewehrt, während die Koalition, Russland und der Iran nur schwache Einwände vorbrachten, die nicht ausreichten, um die Angriffe zu stoppen. Er fuhr in Bezug auf die Bevölkerung von Nord- und Ostsyrien fort: „Sie haben sich in der Welt Gehör verschafft. Diese Haltung ist sehr bedeutsam, wir begrüßen sie. Die Menschen blieben in ihren Heimatorten und sie sind entschieden, den Angriffen zu widerstehen. Dies ist eine sehr ehrenvolle Haltung und eine wichtige Botschaft. Als die QSD ankündigten, die Zusammenarbeit mit der Koalition einzustellen, war dies eine Gefahr. Das türkische Regime hat erkannt, dass ein Bodenangriff einen hohen Preis haben wird.“ Aufgrund der Proteste und des Widerstands in Nord- und Ostsyrien wie auch durch die Proteste weltweit hätten die Angriffe etwas an Intensität abgenommen. Ein Bodenangriff könne aber jederzeit auf die Tagesordnung kommen.
„Die Uhr soll auf die Zeit vor Lausanne zurückgedreht werden“
Bedran Çiya Kurd sieht hinter den türkischen Angriffen in der ganzen Region den Ausdruck eines neoosmanischen Expansionismus. Der türkische Staat versuche, die Schwäche des syrischen und irakischen Staates in diesem Sinne zu nutzen und die Uhr auf eine Zeit vor dem Abkommen von Lausanne zurückzudrehen. „Zu diesem Zweck benutzt er [der türkische Staat] die Sicherheit der Grenzen als Vorwand und will die Besetzung unter dem Deckmantel von Sicherheitszonen umsetzen. Er behauptet, seine Sicherheit sei bedroht und man bekämpfe den Terrorismus. Gleichzeitig werden die Kurden als Terroristen dargestellt. In Syrien und im Norden des Irak arbeitet der türkische Staat mit diesen Behauptungen. Es ist offensichtlich, dass es sich um einen Vorwand handelt, allein schon, wenn man die Tatsache betrachtet, dass das kurdische Volk vom türkischen Staat seit mehr als hundert Jahren als terroristisch betrachtet wird. Unter diesem Vorwand sollen die Öffentlichkeit, die NATO und Europa von dem Plan zur Invasion von Südkurdistan und Rojava überzeugt werden.“
„Der türkische Staat hat Angst vor einem Übergreifen des Feuers“
Der türkische Staat stehe unter Zeitdruck und wolle seine Ziele umsetzen, bevor in der Region eine dauerhafte Lösung gefunden wird. Çiya Kurd beschrieb die Situation des kurdischen Volkes in der Region: „Die Position der Kurden im Irak stellt einen Erfolg dar; die Lage in Nord- und Ostsyrien ist ein Erfolg. In Ostkurdistan gibt es einen Aufstand, und es entwickelt sich ein großer Kampf. Aus diesem Grund befindet sich der türkische Staat in Angst. Er will sich retten, bevor das Feuer auf die Türkei übergreift. Er hat vor allem Angst vor Nordkurdistan und der Lage in der Türkei. Die Rojava-Revolution betraf auch Nordkurdistan, und es fand ein großer Kampf in diesem Sinne dort statt. Die Revolution hatte auch Auswirkungen auf die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei im Jahr 2015. Dies stellte eine ernsthafte Bedrohung für die Macht der AKP/MHP-Allianz dar. Deshalb versuchte dieses Regime mit allen Mitteln, den Kampf zu schwächen und seinen Erfolg zu verhindern.“
Türkische Kriegsverbrechen werden dokumentiert
Çiya Kurd erinnerte daran, dass der türkische Staat seit Jahren in den besetzten Gebieten Efrîn und Serêkaniyê schwere Kriegsverbrechen begeht. Die Selbstverwaltung arbeite daran, diese Verbrechen vor Gericht zu bringen. Dazu hätten diplomatische Gespräche stattgefunden und man habe internationalen Institutionen, Persönlichkeiten und Staatsvertreter:innen Dokumente über die Verbrechen der letzten Jahre und die aktuellen Kriegsverbrechen zukommen lassen. Dennoch aber schweige die internationale Gemeinschaft. Das bedeute nichts anderes, als dass sie Komplizin der mörderischen türkischen Politik sei. Çiya Kurd warnte, dass bei einem Festhalten an dieser Komplizenschaft die Bedrohung durch den IS-Terror erneut wachsen und alle Menschen erreichen werde, denn die Selbstverwaltung könne angesichts der Angriffe den Kampf gegen den Terror nicht wie früher fortsetzen.
„Die türkische Aggression bedroht auch die Interessen der arabischen Staaten“
Çiya Kurd kritisierte auch die schwache Reaktion der arabischen Staaten und sagte: „Die arabischen Staaten hätten sich gegen die türkischen Invasionsangriffe stellen müssen, aber sie haben nichts getan. Diese Aggression bedroht auch ihre Interessen. Der türkische Staat hat Pläne für Syrien, den Irak und andere arabische Länder. Die Türkei mischt sich massiv in den arabischen Ländern ein. Sie interveniert durch die Muslimbruderschaft und eine Welle des politischen Islam. Wir wissen, dass diese Welle in allen arabischen Ländern ein Problem darstellt, gerade deshalb hätten die arabischen Staaten Stellung beziehen müssen. Dies ist ein Thema, das kritisiert werden sollte. In diesem Sinne werden wir einen wichtigen Teil unserer Aktivitäten auf die Staaten des Nahen Ostens fokussieren.“