In Kobanê gibt es ein Waisenhaus mit dem Namen „Keskesora Alan“ (Alans Regenbogen). Das Waisenhaus ist nach Alan Kurdî benannt, der aus Kobanê stammte und auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken ist. Sein winziger Körper wurde an den Strand gespült. Jetzt leben in dem Haus Kinder, von denen die meisten ihre Eltern im Krieg verloren haben. Ein Großteil von ihnen ist noch zu klein, um zu hinterfragen, warum sie keine Mutter und keinen Vater haben. Aber sie wissen sehr genau, dass man ohne Mutter nicht existieren und leben kann. Wenn erwachsene Menschen diese Tatsache zur Sprache bringen, beeinflusst uns das nicht weiter. Wenn jedoch ein Kind uns diese Feststellung ohne Worte ins Bewusstsein ruft, tut es maßlos weh.
Auch als Kind findest du Überlebensgründe für dich. Du musst sie finden. Wenn du sie nicht findest, kannst du nicht leben. Und die Kinder im Waisenheim haben eine Formel für ihr mutterloses Dasein gefunden.
Wenn du das Waisenheim besuchst, sticht dir sofort ein großer Schriftzug an der Wand am Spielplatz ins Auge: „Mama Serhildan“. Mama heißt auch auf Arabisch „Mutter“. Und wer ist Serhildan? Sie ist eine Frau, zu der alle Kinder Mama sagen und die ein so großes Herz hat, dass sie eine Mama für alle Kinder sein kann. Ich wollte schon lange über Mama Serhildan schreiben.
Serhildan ist eine großartige Frau, von der die Welt nichts weiß. Als der IS 2014 Kobanê angriff, studierte sie Pädagogik. Sie konnte es nicht mit sich vereinbaren, dem Krieg aus der Entfernung zuzusehen und unbeteiligt zu sein. So legte sie ihr Studium beiseite und kam über die Grenze nach Kobanê. Sie wurde eine Kämpferin und damit eine Weggefährtin derer, die in Kobanê eine Legende schrieben. Bis zum Ende des 130 Tage andauernden Kriegs in Kobanê kämpfte sie. Was sie in diesen 130 Tagen erlebte, erleben die meisten Menschen nie. Sie wurde innerhalb dieses kurzen Zeitraums verletzt und sah alle Arten des Todes, was sie dem Geheimnis des Lebens näherbrachte. Als der Kampf vorbei war, blieb sie in Kobanê. Es war nicht so, dass es keinen Ort gegeben hätte, an den sie hätte gehen können. Sie verließ die Stadt nicht, weil das, was sie hier an Erfahrungen gesammelt hatte, für ein ganzes Leben ausreichte. Sie war gekommen, weil ihr Gewissen es von ihr gefordert hatte. Dass sie blieb, war ihr eigener Wunsch.
Und jetzt ist Serhildan in Kobanê, der Stadt, in die sie zum Kämpfen gekommen war, Pädagogin in einem Waisenheim. Die Waisenkinder in „Alans Regenbogen“ lieben sie so sehr, dass sie „Mama Serhildan“ an die Wand schreiben. Serhildan hat nichts dagegen, dass die Kinder sie Mama nennen. Und die Kinder, die verschiedener Herkunft sind, fragen sich nicht, wie es sein kann, dass sie trotz ihrer Unterschiedlichkeiten dieselbe Mutter haben. Um Serhildan, ihre Erlebnisse und die Kinder zu verstehen, braucht man ein großes Herz. Diese Kinder, die die Namen ihrer Eltern nicht kennen und sich nicht einmal an ihre Gesichter erinnern, haben jetzt eine gemeinsame Mutter: Serhildan, die ihr Leben den schönen Dingen widmet.
Serhildan wurde nicht nur im Krieg verwundet. Als im Waisenheim ein Feuer aufgrund einer defekten Stromleitung ausbrach, erlitt sie schwere Brandwunden bei dem Versuch, die Kinder zu retten. Sie war monatelang in Behandlung und trug trotzdem bleibende Schäden davon. Ihre Arme kann sie beispielsweise nicht mehr so bewegen wie früher. Dass sich ihr Äußeres durch die Brandnarben verändert hat und sie monatelang im Krankenhaus bleiben musste, hat für die Kinder nichts verändert. Sie ist immer noch Mama Serhildan, die vermisst und geliebt wird.
Und sie ist einer der wenigen Menschen auf dieser Welt, die ich beneide. Was würde ein Mensch nicht dafür geben, eine „Mama Serhildan“ zu sein? Auch das Waisenheim bleibt von den Auswirkungen der türkischen Angriffe nicht verschont und wenn hier der Krieg ausbricht, wird „Mama Serhildan“ wieder zur Waffe greifen, um ihre Kinder zu schützen. Sie ist eine verletzte Pädagogin mit griffbereiter Waffe.
Diese Welt ist so grausam, dass kleine Kinder wie Alan tot an den Strand gespült werden… Und diese Welt verdankt „Mama Serhildan“ viel, einer Frau, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt hat, damit nicht weitere Kinder sterben müssen…
Möge dir und deinen Kindern niemals wieder Schmerz zugefügt werden, Mama Serhildan!
Der Artikel erschien zuerst in Yeni Özgür Politika.