Die Aufnahmen vom Einsatz chemischer Waffen bei den türkischen Angriffen auf die HPG-Guerilla in Südkurdistan haben heftige Reaktionen hervorgerufen, das Thema wurde auch im Parlament in Ankara thematisiert. Während Verteidigungsminister Hulusi Akar den Angriff mit der Begründung leugnete, dass die türkischen Streitkräfte keine Chemiewaffen besitzen, wurde eine Ermittlung gegen die Vorsitzende des türkischen Ärzteverbands (TTB), Şebnem Korur Fincancı, eingeleitet. Die renommierte Forensikerin und Trägerin des Hessischen Friedenspreises 2018 hatte nach der Sichtung des Filmmaterials erklärt, die gezeigten Symptome deuteten auf einen Einsatz von Nervenkampfstoffen hin und der Vorwurf müsse untersucht werden.
Der HDP-Abgeordnete Hişyar Özsoy, Ko-Sprecher des Parteiausschusses für auswärtige Angelegenheiten, hat sich gegenüber ANF zu dem Thema geäußert. Er sagt, dass diese Frage erst geklärt werden könne, nachdem eine unabhängige Delegation den Vorfall untersucht habe.
Das Thema ist nicht neu
Özsoy weist darauf hin, dass die Diskussion über Chemiewaffeneinsätze in der Kurdistan-Region Irak (KRI) nicht neu seien. In der Region herrsche seit sechs bis sieben Monaten Krieg und Zivilist:innen aus den umliegenden Dörfern hätten stationär behandelt werden müssen, weil sie chemischen Gasen ausgesetzt waren. Özsoy erklärte, dass bisher zwei Delegationen in die Region gereist seien, um dies zu untersuchen, was ihnen jedoch nicht gestattet wurde: „Zwei verschiedene Delegationen reisten in die Region, um die Situation der Menschen zu untersuchen, die Berichten zufolge Chemikalien ausgesetzt waren. Doch leider hat die kurdische Regionalregierung den Delegationen den Zugang in die Gebiete verweigert. Man muss dazu sagen, dass diese Regierung selbst bereits von Chemiewaffen betroffen war und das Massaker von Helebce [Halabdscha] erlebt hat; ihr Verhalten ist natürlich inakzeptabel."
Schockierende und unmenschliche Bilder
Der HDP-Abgeordnete verweist auf die „schockierenden und unmenschlichen Bilder“ sterbender Guerillakämpfer:innen und stellt fest, dass es schwerwiegende Anschuldigungen gebe, die nicht mit den Worten des Verteidigungsministers abgetan werden könne. Özsoy betont, dass die einzige Möglichkeit, Diskussionen über dieses Thema zu verhindern, darin bestehe, dass eine unabhängige Delegation an den Ort des Geschehens reise und eine Untersuchung durchführe. Wenn die Regierung keine Bedenken hinsichtlich ihrer eigenen Aussagen habe, dann sollte sie den Weg für eine unabhängige Delegation freimachen.
Fincancı ist eine Ärztin mit Berufsethos
Zu der Hetze gegen Şebnem Korur Fincancı erklärt Özsoy, dass diese als Forensikerin eine Expertin und eine Ärztin sei, die voll und ganz ihre Berufsethik einhalte. Özsoy stellt fest, dass eine Hexenjagd gegen Fincancı gestartet wurde, nur weil sie sagte, dass der Vorfall untersucht werden sollte: „Nur weil sie die Aufnahmen aus professioneller Sicht interpretierte und sagte, dass die Angelegenheit untersucht werden sollte, griffen alle, angefangen bei Präsident Erdoğan, sie und Selahattin Demirtaş an, der eine Erklärung zu diesem Thema auf Twitter abgab."
Die Opposition zeigt ihr klassisches Status-Quo-Verhalten
Özsoy erklärt, dass die Opposition, die sich in solchen Momenten hätte zeigen müssen, ihre übliche klassische etatistische Status-Quo-Haltung an den Tag gelegt habe, während sie diese schwerwiegenden Anschuldigungen hätte anprangern müssen. Mit Blick auf das Massaker von Dersim 1937/1938 sagt Özsoy: „Ein Ansatz wie der, dass es so etwas nicht geben kann und daher nicht stattgefunden hat, ist nicht korrekt. In der Geschichte der Türkei wurden bereits früher Menschen in Dersim in Höhlen mit Gas getötet. So steht es in den offiziellen Unterlagen des Staates. Doch während dies der Fall ist, können andere Stimmen als der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrıkulu, der eine parlamentarische Anfrage zu diesem Thema eingereicht hat, das Argument vorbringen, dass so etwas nicht passieren kann. Deshalb muss, wie Şebnem Korur Fincancı sagte, eine internationale unabhängige Delegation, sogar eine internationale unabhängige Delegation mit Fachleuten aus der Türkei, dorthin reisen und die Angelegenheit vor Ort untersuchen. Abgesehen davon zielen alle Worte und Diskussionen darauf ab, dieses Thema abzuschließen, und sind nichts als Demagogie."
Wer Frieden will, muss die kurdische Frage lösen
Özsoy erinnert daran, dass der Staat in der Vergangenheit, als er den Willen verlor, die kurdische Frage zu lösen, zu allen möglichen gewaltsamen Methoden griff. Die Aussage von Verteidigungsminister Akar „In unserer Kultur gibt es so etwas wie Folter oder Bestrafung nicht" sei nicht überzeugend, so der HDP-Abgeordnete: „Wurden kurdische Dörfer nicht niedergebrannt? Wurden nicht Menschen auf der Straße getötet? Selbst Leichen wurden gefoltert, ganz zu schweigen von den Lebenden. Zu diesem Thema gibt es zahlreiche Archive aus den 1990er Jahren. Nun meldet sich Hulusi Akar zu Wort und sagt, dass dies und jenes nicht vorkommen kann. Aber dieses Volk hat ein Gedächtnis. Wird es sich an den offiziellen Ausführungen orientieren oder an seinem eigenen Gedächtnis? Wir haben mit eigenen Augen gesehen, wie Menschen in der Mitte ihres Dorfes gefoltert wurden. Es liegt auf der Hand, dass der Staat, wenn er den Willen verliert, die kurdische Frage zu lösen, zu allen möglichen Formen der Gewalt greift. Wenn man der Politik den Weg versperrt, ebnet man den Weg für die Mittel der Gewalt. Das ist so einfach wie 2+2= 4. Deshalb haben wir natürlich keine Erwartungen oder Hoffnungen an diese Regierung. Wer wirklich Frieden und Ruhe in der Türkei will, muss die kurdische Frage lösen. Der Konflikt dauert bereits seit 100 Jahren an, und wenn es so weitergeht, wird er noch weitere 100 Jahre andauern. Die Menschen werden die Verlierer sein. Und diejenigen, die an der Macht sind, werden einen Weg finden, um an der Macht zu bleiben, indem sie solche Themen nutzen.“
Abschließend erklärt Hişyar Özsoy, dass die HDP das Thema weiter verfolgen wird und eine Reihe von Initiativen gestartet hat, damit die Chemiewaffeneinsätze untersucht werden.