Terrorverfahren gegen TTB-Vorsitzende nach Äußerungen zu Chemiewaffen

Gegen die Vorsitzende des türkischen Ärzteverbands, Şebnem Korur Fincancı, ist ein Verfahren eingeleitet worden. Ihr werden Terrorpropaganda und Herabwürdigung des Staates wegen Äußerungen zu türkischen Chemiewaffenangriffen in Kurdistan vorgeworfen.

Die Oberstaatsanwaltschaft Ankara hat ein Verfahren gegen die Vorsitzende des türkischen Ärzteverbands (TTB), Şebnem Korur Fincancı, eröffnet. Die renommierte Forensikerin und Trägerin des Hessischen Friedenspreises 2018 wird beschuldigt, Propaganda für eine „Terrororganisation“ betrieben und gegen den berüchtigten Artikel 301 verstoßen zu haben. Der sogenannte Türkentum-Paragraf regelt die „Beleidigung der türkischen Nation, des Staates der türkischen Republik und der Institutionen und Organe des Staates“.

Hintergrund des im Eiltempo eingeleiteten Ermittlungsverfahrens sind Äußerungen Fincancıs in einer Sendung des kurdischen TV-Senders Medya Haber zu dem mutmaßlichen Einsatz von chemischen Kampfstoffen durch die türkische Armee bei der Invasion in der Kurdistan-Region Irak (Südkurdistan). In der am Mittwoch ausgestrahlten Sendung schilderte die Medizinerin ihre Eindrücke von Videoaufnahmen, die zwei Guerillakämpfer:innen nach dem Kontakt mit toxischen Substanzen zeigen (ANF berichtete). Die Betroffenen erlitten laut Angaben der Volksverteidigungskräfte (HPG) Lähmungen des Nerven- und Atmungssystems sowie Gedächtnisverlust.

Fincancı sagte, die gezeigten Symptome deuteten auf einen Einsatz von Nervenkampfstoffen hin, der einen Verstoß gegen das Übereinkommen über das Verbot chemischer Waffen (CWÜ) darstellen würde, und forderte eine unabhängige internationale Untersuchung. Muhammed Levent Bülbül, Abgeordneter der rechtsextremen MHP (Koalitionspartner der Erdogan-Partei AKP), griff die Äußerungen der Medizinerin am Donnerstag im türkischen Parlament auf und warf ihr „Verächtlichmachen des Staates“ vor. Den TTB bezeichnete Bülbül als „Sprachrohr der PKK“, dessen Mitglieder dürfe man nicht als „Türken“ bezeichnen. „Wirkliche und wahrhaftige türkische Ärzte würden niemals Verrat begehen und Verräter unterstützen“, sagte Bülbül. Die Strafverfolgungsbehörden müssten umgehend Schritte einleiten, um eine Bestrafung aller Personen zu gewährleisten, die sich im Zusammenhang mit Vorwürfen über Chemiewaffeneinsätze der Türkei des Verrats schuldig machten.

Şebnem Korur Fincancı kritisierte in der Sendung bei Medya Haber auch, dass einer Delegation der ärztlichen Friedensorganisation IPPNW kürzlich der Zugang in die von türkischen Chemiewaffeneinsätzen betroffenen Regionen in Südkurdistan verweigert wurde. Der ehemalige UN-Biowaffeninspekteur Dr. Jan van Aken aus Deutschland und Dr. Josef Savary, Präsident der IPPNW Schweiz, waren Ende September in der Region, um den Vorwürfen nachzugehen, wonach die Türkei in ihrem Krieg gegen die PKK das Chemiewaffenverbot verletzt. Die Autonomieregierung der KRI hatte allerdings eine Untersuchung vor Ort unterbunden. Der Delegation liegen laut einem Bericht dennoch Hinweise vor, die auf den Einsatz von Tränengas und improvisiert produzierte chemische Agenzien wie Chlorgas deuten.

Bei Anklage langjährige Haftstrafe möglich

Der Vorwurf der angeblichen Terrorpropaganda setzt sich daraus zusammen, dass Fincancı die inkriminierten Äußerungen gegenüber einem „Sprachrohr der Terrororganisation“ tätigte. Sollte Anklage gegen die Medizinerin erhoben werden, droht ihr eine langjährige Freiheitsstrafe.