Die Türkei wird zum Gas-Drehkreuz

Mit der Erschließung eines neuen Gasfeldes baut die Türkei weiter fossile Infrastruktur aus. Gleichzeitig steigt die Bedeutung des Landes für die Energieversorgung Europas - was nicht ungefährlich ist.

Es sorgte für Schlagzeilen, als türkische Unternehmen 2020 bei Bohrungen vor der Schwarzmeerküste ein großes Gasfeld entdeckten. Jetzt fließt das erste Gas, perfekt abgestimmt mit dem Wahlkampf-Endspurt von Staatschef Recep Tayyip Erdoğan und seiner AKP. Zunächst sollen täglich zehn Millionen Kubikmeter durch die Pipeline fließen, die das Gas zum Hafen Filyos in der Provinz Zonguldak bringt. Er liegt rund 400 Kilometer östlich von Istanbul an der Schwarzmeerküste. Erdoğan zufolge soll die Kapazität mit der Erschließung weiterer Gasfelder auf 40 Millionen Kubikmeter täglich steigen. Wenn die volle Kapazität erreicht sei, werde man damit 30 Prozent des Bedarfs der Türkei decken.

Das kommt auch in Berlin und Brüssel gut an, wo man seit der Eskalation in der Ukraine händeringend nach Alternativen zu russischem Gas sucht. Die Türkei, die selbst auch aus Russland Gas bezieht, soll in der Gasversorgung Europas künftig eine noch größere Rolle spielen. Dabei geht es weniger um das Gas, das selbst von der Türkei gefördert wird, als vielmehr um den Ausbau des Gasflusses von Aserbaidschan und Zentralasien nach Europa.

TANAP und TAP

Wie ein endlos langer Regenwurm ziehen sich miteinander verbundene Pipelines von den Gasfeldern im Kaspischen Meer bis Italien. Teile des Pipeline-Projektes wurden erst in den letzten Jahren fertiggestellt, sowie TANAP, die Transanatolische Pipeline, die von der Provinz Ardahan an der türkisch-georgischen Grenze durch Anatolien, das Marmarameer bis an die griechische Grenze führt. Und TAP, die Trans Adriatic Pipeline, die das Gas seit Dezember 2020 weiter durch Griechenland und Albanien nach Italien leitet. Mehr als die Hälfte der Strecke fließt das aserbaidschanische Gas auf seinem Weg nach Europa durch die Türkei, und es passiert nicht zuletzt auch den türkisch-griechischen Grenzübergang, der spätestens seit der letzten großen Migrationskrise ein Ort ist, an dem das türkische Regime seine Lage am südöstlichen Rand Europas als Machthebel nutzt.

Seitdem Europa sich, vorangetrieben vor allem durch Berlin und Washington, von russischem Gas unabhängiger machen will, gewinnt auch das Gas, das über die Türkei in den Nordwesten strömt, an Bedeutung. Im selben Atemzug gewinnt damit auch die Türkei als Regionalmacht weiter Boden unter den Füßen.

Ungenutztes Gas in Kurdistan

Neben Aserbaidschan hat auch Turkmenistan Ambitionen, im Kaspischen Meer nach Gas zu bohren. Während Aserbaidschan schon lange Bohrinseln unterhält, ist Turkmenistan neu im Geschäft, könnte aber ein bedeutender Player werden, denn auch wenn es die Ressource bislang nur wenig nutzt, verfügt das Land über die viertgrößten Gasreserven der Welt, gleich hinter Russland, Iran und Katar. Nichts liegt da näher, als auch die Gasreserven Turkmenistans über Aserbaidschan und die TANAP an das europäische Netz anzubinden.

Und dann gibt es da noch das bislang ebenfalls ungenutzte Gas in den kurdischen Teilen des Irak. Man kennt es von den Flammen, die entlang der Ölfelder und Raffinerien unentwegt brennen, das Gas wird dort verbrannt, weil die Technologie fehlt, um es zu nutzen. Zumindest bislang. Aus Sicht türkischer und europäischer Strategen wäre es naheliegend, das künftig zu ändern und neben den Öl-Pipelines, die vom irakischen Kurdistan in die Türkei führen, auch Gas-Pipelines zu verlegen.

Doppeltes Spiel

Neben der EU zerrt auch Russland an der Türkei. Und Erdogan verstand sich in den letzten Jahren recht gut darin, sich politisch beiden Seiten anzubieten und damit möglichst viel für die regionale Vormachtstellung der Türkei herauszuschlagen. Das Nato-Land war einst fest in den westlichen Machtblock eingebunden, tanzt Europa bisweilen aber auch gerne mal auf der Nase herum, wenn es beispielsweise um Migrationsfragen geht, oder um die völkerrechtswidrige Besatzung von Teilen Nordsyriens. Das doppelte Spiel des türkischen Regimes zeigt sich auch in der Gas-Frage. Denn auch wenn Europa das Land braucht, um vom russischen Gas unabhängiger zu werden, fließt trotzdem weiter russisches Gas durch türkische Gewässer und über das Festland in den Balkan.

Erst 2020 wurde Turk Stream 1 fertiggestellt, eine vom russischen Energieriesen Gazprom finanzierte Pipeline, die von Russland in die Türkei und von dort weiter nach Bulgarien fließt. Das letzte Teilstück von Turk Stream 2, dem Nachfolgeprojekt wurde letztes Jahr in Serbien fertiggestellt. Für Russland ist Turk Stream auch deshalb wichtig, weil es sich seit dem Anschlag auf die Nord Stream Pipeline ebenfalls nach Alternativrouten umsieht.

Verbesserte türkisch-israelische Beziehungen

Und dann ist da noch ein weiteres Land, das auf die Türkei schielt, um Gas abzusetzen: Israel. Die Handelsbeziehungen zwischen Israel und Türkei nehmen seit Jahren zu, zum Beispiel was die Automobilindustrie betrifft. Und Israel verfügt über nicht unerhebliche Gasfelder an seiner Mittelmeerküste und baut seine Förderkapazitäten in den letzten Jahren aus: Leviathan, Israels bislang größtes erschlossenes Offshore-Gasfeld, wurde Ende 2019 in Betrieb genommen.

Bislang konnte von dort kein Gas nach Europa exportiert werden, was vor allem daran liegt, dass Israel für einen Export Richtung Europa die Türkei braucht – zwischen Ankara und Tel Aviv war die Stimmung bislang aber recht angespannt. Doch das ändert sich langsam, was mit verschiedenen geopolitischen Gegebenheiten zu tun hat, unter anderem damit, dass beide Länder Aserbaidschan im Krieg gegen Berg-Karabach unterstützen. Oder auch damit, dass man in Syrien gemeinsame Interessen verfolgt, die sich gegen den Machthaber Baschar al-Assad richten. Diese Zusammenarbeit macht eine Idee, die für einige Jahre auf Eis lag, wieder realistisch: Eine Offshore-Pipeline von der Mittelmeerküste Israels in die Türkei – oder der Export via LNG-Tankschiffen. Mit Botaş Dörtyol, einer schwimmenden Speicher- und Regasifizierungsanlage vor der Küste Hatays, gäbe es dafür bereits eine Anlaufstation.

Energie als Waffe

Als sich vor rund einem Monat das Who is Who der westlichen Energiekonzerne in Wien zur European Gas Conference traf, protestierten tausende Menschen gegen die Konferenz. Zum einen, weil der weitere Ausbau von Gas-Infrastruktur bedeutet, dass sich Gesellschaften inmitten der Klimakrise weiter von fossilen Energieträgern abhängig machen. Zum anderen, weil für den Gasausbau nicht nur die Natur, sondern auch Menschen brutal ausgebeutet werden, wie neokoloniale Fracking-Projekte in Südamerika und Afrika zeigen. Und es gibt noch einen weiteren Grund: Die tausenden, die da in Wien protestierten, richteten sich auch gegen die Stärkung von Regimen, die mit fossilen Energieträgen Profite machen – das auch mit Blick auf die Türkei.

Aus gutem Grund. Denn dass das türkische Regime keine Hemmungen kennt, wenn es darum geht, seine Lage in geopolitische Macht umzuwandeln kann man seit vielen Jahren anhand der Staudammprojekte an Euphrat und Tigris beobachten, mit denen das Regime Millionen Menschen in den kurdischen Gebieten, in Syrien und dem Irak zunehmend das Wasser abdreht.