Reisetagebuch: Der Süden widersteht – Tag 7

Der Aufenthalt in Calendaria wirkt negativ nach. Die ständige Präsenz von Polizei und Guardia Nacional schuf ein Klima der Angst, Gegner:innen von Zerstörungsprojekten sehen sich mit Bedrohungen konfrontiert. Doch ihr Widerstand weckt Hoffnung.

1. Mai 2023

Während die compas in Oaxaca wieder frei sind, wirkt der gestrige Aufenthalt in Calendaria negativ nach. Die ständige Präsenz von Polizei und Guardia Nacional, selbst in unseren „Rückzugsräumen“, schuf ein Klima der Angst, die lokalen Gegner:innen des Projekts sehen sich mit Bedrohungen konfrontiert. Der Tren „Maya“ ist ein Militärprojekt, dass in dieser entscheidenden Phase keinen Widerspruch duldet.

Auch in Valladolid sind die staatlichen Repressionsorgane präsent, und auch hier beginnt die Zeremonie im Mittelkreis des großen Basketballfelds, in dessen Halle wir heute schlafen konnten, mit dem Erinnern an sechs politische Gefangene. Die Ch'ol verwenden eine blaue, aus Bäumen gewonnene Farbe, die das Wasser symbolisiert, das zentrale Thema nicht nur des heutigen Tages, sondern des Widerstands gegen die Megaprojekte auf der Halbinsel Yucatán generell.


Um 10 Uhr, es ist bereits sehr heiß, beginnt im Anschluss die große Demonstration, die uns durch das historische Zentrum der Stadt, am Templo de San Servacio im Parque Principal vorbei zum Parque Los Heroes an der Bibliothek führt, wo eine Kundgebung stattfindet.


Hier ist die Stimmung anders als in Calendaria. Einige Menschen scheinen verärgert über den Protest, doch andere klatschen und nicken. Die einzigen, die Flyer ablehnen, sind Tourist:innen aus China und den USA (schade, beide Staaten sind im Megaprojekt involviert). Der „Tren“ spaltet, auch im Zentrum der Halbinsel. Die Kundgebung beginnt unter diesem Eindruck, als eine compa aus Valladolid erzählt:


„Wir konnten den Dschungel genießen, und wir hatten als Maya Respekt für das Land, für das Wasser... Aber es gibt Leute, die den unglaublichen Wert von all dem nicht verstehen und ihr Land verkaufen, weil sie es nicht als das Leben selbst sehen, sondern als eine Ressource, deren Gewinn sie sofort erhalten können. Es ist jedoch besorgniserregend, dass unsere Kinder dann kein Land mehr haben, und der massenhafte Landverkauf entfesselt die Gentrifizierung. Wir fühlen uns hier nicht mehr zu Hause, man kann kein Grundstück kaufen und ein schönes Haus haben, weil die Preise so stark gestiegen sind, seit sie den Tren Maya angekündigt haben. Und das tut weh. Dies ist daher auch ein Aufruf an den mexikanischen Staat, die Kinder aller indigenen Völker zu respektieren. Wir wollen nicht, dass unsere Kinder das erleiden, was sie heute bereits erleiden, doch es wird in der Zukunft noch schlimmer sein. Sie haben das Recht auf eine gesunde Umwelt und auf die Erhaltung ihrer Gesundheit - ein würdiges Territorium.“

Ein landwirtschaftliches Gemeinschaftskollektiv berichtet von dem autonomen Aufbau solcher Territorien: „Wir betreiben regenerative Landwirtschaft... und wir tun es, weil wir das Land lieben, weil wir eine liebevolle Art und Weise entdeckt haben, es zu behandeln, und wir haben positive Reaktionen erhalten, die wir mit der Gemeinschaft von Valladolid teilen. Wir hatten 35 Minuten von hier entfernt einen wunderschönen Dschungel, doch dann kam der Tren „Maya“, und heute ist ein großer Teil des Dschungels weg, er ist Staub. Aber wir glauben, dass er mit der hier versammelten Solidarität gerettet werden kann, denn alles ist zum Teilen da. Wir schützen unsere Gewässer, wir tun es gemeinsam, in der Gemeinschaft, sehr liebevoll, und wir können es nicht allein tun. Aber als Gemeinschaft werden wir retten, was wir lieben.“


Es folgt ein feministisches Kollektiv, welches ebenfalls den Schutz der Gewässer hervorhebt: „Die grausamste aller Enteignungen ist die Enteignung unseres Wissens, unserer Sprachen und unseres Glaubens. Wir indigenen Frauen sind Vertriebene, und wir erholen uns allmählich und bauen wieder auf, was man uns an Wissen nahm. Die Enteignung und Abholzung betreffen zudem nicht nur die indigenen Völker, sie betreffen uns alle. Wenn das Wasser in den Cenoten versiegt, werden sich auch unsere Wassertanks nicht mehr füllen, die wir zum Überleben brauchen. Schließt euch dem Kampf an, er gehört euch.“


Es ist zentrales Ziel der Karawane, die Widerstände vom Isthmus und auf der Halbinsel zu verbinden – und wenn direkt im Anschluss an die compas aus Valladolid ein Genosse vom Regionalrat von Xpujil (Calakmul), unserer nächsten Station spricht, setzt dies jenen Anspruch in die Praxis um. Es wird vom Vorgehen gegen die unzureichenden Konsultationen der indigenen Völker in Bezug auf die Megaprojekte gesprochen, was auch den compas hier in Valladolid nützen wird: „Seit Beginn der angeblichen Konsultationen hat die Regierung unsere Meinung ignoriert und ist auf ihre Weise mit den Megaprojekten vorangekommen, ohne die Rechte der indigenen Völker oder die der armen Menschen zu respektieren. Wir haben versucht, die Probleme zu lösen, die auf dem Weg aufgetaucht sind, da sie immer etwas versprochen haben, aber nichts passiert ist... sie fahren fort, mehr zu lügen. Wir verteidigen auch die Ressourcen, die sie uns stehen wollen. Sie stehlen vor allem das Wasser! Wir compañer@s von der Halbinsel nutzen außerdem das Instrument des Amparo [gerichtliche Eilverfügungen, die schon mehrmals Baustopps des Tren „Maya“ erreichten, allerdings in anderen Regionen und nur vorläufig], wir haben mehrere eingereicht, und bis jetzt gab es keine Antwort zu unseren Gunsten. Der Amparo von Xpujil ist eingereicht worden. Wir wissen, dass das Amparo-Verfahren nicht so einfach zu gewinnen ist, aber wir wissen auch, dass dieser Prozess uns helfen kann.“

Die lokale Bevölkerung verurteilt auch die zunehmende Militarisierung:

„Die Nationalgarde und die Armee positionieren sich im ganzen Gebiet und errichten weitere Kasernen. Das ist, was passiert. Die Arbeiten am Maya-Zug werden in die Hände der Armee gelegt. Im Biosphärenreservat Calakmul wird ein sehr großes Militärhotel im Herzen des Reservats gebaut, obwohl selbst nach Angaben der Regierung dort nicht gebaut werden darf. Auch an den Bahnhöfen werden in diesem Gebiet Kasernen errichtet.“

Doch heute treffen sich mögliche Allianzen, die dem etwas entgegensetzen können. Eine compa aus der nördlichen Zone von Quintana Roo bei Playa del Carmen, Cancún und Tulum berichtet aus dem „Herzen der Bestie“ Yucatáns: „Fünfhundert Jahre nach der Plünderung dessen, was heute Mexiko heißt, ist das Ergebnis Cancún, eine der gewalttätigsten Städte des Landes, die nur schöne Zahlen für Hotels vorweisen kann, aber nicht sagt, zu welchem Preis. In den Randgebieten von Tulum, Ciudad del Carmen und Cancún leben viele Menschen im Elend. Die Lebenshaltungskosten sind genauso gestiegen wie hier in Valladolid.“

Ausgebeutete Arbeiter, Maya-Indígenas, nach einem Arbeitstag im „Touristenparadies” Cancun

„Es wird immer schwieriger für jemanden aus Valladolid, ein Stück Land zu besitzen. Es wird fälschlicherweise als wirtschaftlicher Spillover bezeichnet, in Wirklichkeit handelt es sich um Gewalt und Ungerechtigkeit. Es gibt Schäden an den Cenoten und dem Urwald, für den Tren ‚Maya‘ wurden mehr als neun Millionen Bäume gefällt, neun Millionen Lügen (AMLO hatte behauptet, für den „Maya“ Zug werde „nicht ein Baum abgeholzt“). Es gibt eine Verwüstung des alten Dschungels zwischen Merida und Xpujil, die sie verschleiern wollen. Der Einfluss des privaten Kapitals ist sehr beeindruckend, und es sind immer noch dieselben Leute, die in Yucatán, in der Nähe von Merida, investieren. Die Verwüstung ist beeindruckend, und es sind in den Städten dieselben Hotel- und Immobilienketten, dieselben, die den Dschungel geplündert haben. Sie tauschen ihn (den Wald) gegen prekäre Arbeitsplätze und die Drogenkartelle ein, die von Cancún aus in die übrige mexikanische Karibik vordringen. In Carrillo Puerto und Bacalar gibt es nun auf einmal Morde und Verschwundene. Und diese sind keine Einzelfälle.“

Andere Genoss:innen erwähnen die Situation der Verschmutzung der Cenoten in ihren Gemeinden, unter anderem durch die Baustellen, und aus vielen weiteren Orten wird von der Kriminalisierung derjenigen berichtet, die solche Situationen aufdecken, etwa in Sitilpech.

Delegierte der Küste von Chiapas, die wir vor genau einer Woche besuchten, sprechen ebenfalls über die Militarisierung, das Verschwindenlassen, die Übergriffe auf Migrantenfamilien, und werfen der Regierung und den Unternehmen Plünderungen, Ausbeutungen, Enteignungen und Angriffe auf die Menschenrechte vor – genau wie Mario von der Versammlung des Isthmus, der einmal mehr an den Widerstand von und die Repressionen gegen Puente Madera erinnert.

Der jugendliche Chirro aus Oteapan, Veracruz, nennt neue Informationen zum Bergbau in der Nähe seiner Gemeinde, welche Wasser und Wald bedroht. Der Genosse hat unter hohem Risiko nicht nur die Flora und Fauna in der Nähe untersucht, sondern bereits die weiteren Pläne der Ausweitung der Mine aufgedeckt, wie auch die Verstrickung von Unternehmen aus den USA und Europa herausgearbeitet. Darüber werden wir noch ausführlich berichten, nachdem zunächst vor allem auf Grund von Sicherheitsbedenken die Veröffentlichung vertagt wird. Oteapan befindet sich in einem bewaffneten Ausnahmezustand.

Abschließend sprechen die CNI-Delegierten, die den Großteil der gehaltenen und in den folgenden Tagen folgenden Reden als Organisation mit-vertreten. Sie nennen ein Beispiel wie jenes, das Chirro gerade vorgetragen hatte:


„Die Nahua-Völker werden von Unternehmen wie dem kanadischen Bergbauunternehmen Esperanza Silver, das später zu Alamos Gold und jetzt zu Zacatecas Silver wurde, bedroht, da sie die Umwelt verteidigen. Das Unternehmen hat 17 Konzessionen mit einer Fläche von mehr als 15.000 Hektar in den Gemeinden von Cuentepec in Tlahuac. Die Hälfte der Gemeinde wird verschwinden, und sie wollen uns seit 2012 in eine andere Gemeinde umsiedeln, ohne dass sie die Genehmigung erhalten haben... Wir machen die drei Regierungsebenen dafür verantwortlich, was mit uns in unseren Gemeinden passieren könnte. Wir demonstrieren heute auch und noch immer gegen die PIM [das thermoelektrische Proyecto Integral Morelos], die uns bereits das Leben eines Genossen des CNI gekostet hat. Sein Name ist Samir Flores Soberanes.“ Das Treffen endet mit dem Thema des heutigen Tages: „Das Wasser und das Meer gehören den Menschen, die unsere Vorfahren zurückgelassen haben... sollen die großen Unternehmen und ihre bewaffneten Schläger, die das Wasser stehlen, doch in ihre Länder zurückkehren, aber hier in Mexiko wollen wir sie nicht, schon gar nicht in unseren Dörfern. Paramilitärs raus, wir brauchen sie nicht, um auf uns aufzupassen, wir, das Volk, können auf uns selbst aufpassen.“

Während der Redebeiträge tritt ein gehetzt wirkender Mann mit kurzärmligem Hemd und einer rundlichen Brille auf uns zu. Er erzählt, dass er keine Zeit habe, nicht wusste, dass die Karawane Valladolid besucht, aber uns unbedingt auf die nahegelegene Zone von Ek Balam hinweisen müsse – eine Maya-Stätte, die auch durch den Tren „Maya“ und dessen „Profitinteressen“ zerstört werden wird. Er wirkt verzweifelt, doch wir bleiben in Kontakt.

Die Demonstration macht sich nach einem musikalischen Abschluss der Kundgebung (Sin Miedo) auf den Rückweg, und ruft: „Militares, Tanques, Guerra – lo sigue pagando el pueblo, con ñinos sin escuela (Militär, Panzer, Krieg – dies bezahlt das Volk, mit Kindern ohne Schule/ die keine Schule haben).“

Bevor wir weiterziehen, spielen wir eine Runde Basketball - der Platz, die Körbe, die Bälle, alles ist nach einer Nacht und einem Tag dann doch zu verlockend. Aber in der Hitze von Yucatán, die Sonne hat ihren Zenit erreicht, und trotz des Dachs, schwitzen wir schon ohne Bewegung, und nur die Kinder halten lange durch. Nach einem kurzen, intensiven Spiel denken alle an die Zeremonie vom Morgen zurück: Wasser. Wasser ist ein Schatz, der mehr wert ist als Gold. In dieser Region, die immer heißer wird, wird dieser Schatz immer seltener, vor allem durch die zerstörerischen Großprojekte: Baustellen, Massentourismus, Monokulturen, Massentieranlagen, Waldrodungen…

Die Projekte verstärken den Klimawandel und die Wasserknappheit, während Gemeinden über Hotels und Reis(!)-Monokulturen klagen.

Diese begleiten uns auch wieder auf unserem Weg in Richtung Felipe Carillo Puerto im Bundesstaat Quintana Roo, knapp 40 Kilometer von der Karibikküste und 100 Kilometer von Tulum entfernt. Doch nach einiger Zeit verdichtet sich der Wald wieder, hier sind bis heute einige Biosphären-Reservate erhalten, die eine einzigartige Artenvielfalt beherbergen (unter anderem die unterirdischen Höhlen- und Flussysteme der Cenotes). Sie vermitteln einen Eindruck vom ökologischen Reichtum der Halbinsel. Diese letzten intakten Wälder sind nun bedroht, genau wie die Lebensweise der hier stets im Einklang mit der Natur lebenden indigenen Völker – durch den Tren „Maya“ und die Großprojekte, die er mit sich bringt.

Doch es formiert sich Widerstand. Auf beeindruckende und unser Herz zum Tanzen bringende Weise heißt uns dieser nach einer vierstündigen Fahrt in Carillo Puerto willkommen:

Die olas, eine Gruppe dreier Musikerinnen, spielen, singen und tanzen auf dem zentralen Platz, auf dem Stühle für die Anwesenden aufgestellt worden sind. Sie begrüßen die Karawane und fordern in flammenden Reden den Kampf gegen den Kapitalismus und für das Leben, gegen die Megaprojekte und für das Wasser, gegen den Kolonialismus und für einen lebenswerten Planeten der zukünftigen Generationen. Nur Frauen sprechen heute Abend für den lokalen Widerstand von Carillo Puerto, der sich, ähnlich wie in Calendaria, erst seit kurzer Zeit gegen die Megaprojekte organisiert. In wenigen Monaten wurden die Grundlagen geschaffen für die Struktur, die nun 200 Menschen empfängt, um morgen ein starkes Zeichen gegen den Tren „Maya“ und die „territoriale Neuordnung“ Süd-Mexikos zu setzen.

Offiziell begrüßt uns Wilma vom Gemeindezentrum U kuuchil k Ch'i'ibalo'on, dann spricht die compañera Nora vom Zentrum Ka Kux Talk Much Meyaj aus Hopelchen. Sie berichtet über die sich dort rasant ausbreitenden Monokulturen und Gifte, die bisher auf der Halbinsel keinen Einzug gefunden hatten: Herbizide, Pestizide, Schädlingsbekämpfungsmittel wie Glyphosat: „Sie verseuchen das Wasser, das Land, die Luft und die Lebensmittel selbst, und sie sind im Maya-Dschungel auf dem Vormarsch. Der Einsatz dieser Chemikalien tötet das Ökosystem (Insekten, Heilpflanzen usw.). Hopelchen war eine der wichtigsten Imkereiregionen, heute leiden die Bienen genauso wie wir. In diesem März haben die Imker mehr als 3.000 Bienenstöcke verloren. Mit den Bienen ist alles verloren.“

Hopelchen ist mit einem Verlust von 20 Prozent des Urwalds die am stärksten entwaldete Gemeinde des Landes geworden. Von 2001 bis 2019 wurden 186.000 Hektar Urwald zerstört, womit die Abholzungsrate fünfmal höher ist als im Landesdurchschnitt.

„Sie zerstören nicht nur das Ökosystem, sondern auch unsere Kultur. Sie berauben uns unserer Lebensweise. Als Maya-Volk sind wir mit einem allmählichen Völkermord konfrontiert... Sie implantieren eine Sichtweise der Entwicklung, die mit Konsum, Individualismus und Geld, dem Kapitalismus, verbunden ist.  Unsere Verteidigung von Mutter Erde basiert auf unserer kosmischen Vision: Jedes Element der Natur ist keine Ressource, die in Geld umgewandelt wird, sondern eine heilige Einheit, von der das Leben abhängt.“

Und auch die Nacht betont das Wasser: „Gegenwärtig sind wir in unserem Gebiet mit der Verseuchung des Grundwassers durch Glyphosat aus dem Anbau von Soja und Reis konfrontiert. Aus diesem Grund haben wir die Verteidigung unseres heiligen Wassers aus unserer Kosmovision übernommen. Der Kampf geht weiter, Genossen!“

Auf dem Platz, der die widerständige Geschichte der Stadt widerspiegelt, (¹) gesellen sich derweil immer mehr Umstehende hinzu, und viele fassen vor allem ein riesiges Banner ins Auge, welches die Gefahren der verbundenen Projekte Tren „Maya“ und „interozeanischer Korridor“ aufzeigt. Das freut uns besonders, denn es handelt sich um ein Spiegelbild der Yucatán-Halbinsel, welches auf der einen Seite das Leben des Territoriums, auf der anderen die Ausbeutung durch die 4T künstlerisch darstellt. In Zusammenarbeit mit compas aus dem Isthmus war dies eine spontane Idee vor der Karawane, um auch Informationen bereitzustellen, die ohne Text – und somit für viel mehr Menschen – funktionieren können. Doch vergaßen wir die gedruckten Flyer in Mexiko-Stadt. Nun sehen wir, dass dieser Flyer doch nicht „vergessen“ wurde – im Gegenteil: Die indigenen Gemeinden vom Puerto setzten sich offenbar zusammen, um ihn in Großformat abzuzeichnen, und der halbe Platz studiert heute Nacht diese Karte, deren aktuellen Stand wir uns morgen „in echt“ ansehen werden.


Inzwischen spielen die olas ein Lied für die „Verschwundenen“: „Um unsere Seelen zu erleichtern, könnten wir von Leichnamen sprechen, die wir suchen, aber das geht nicht, wir haben ja überhaupt keine Notiz von ihnen.“ Unter AMLOs Amtszeit wurde in Mexiko der traurige Rekord von 100.000 Verschwundenen geknackt. Eltern suchen mit Stäben in den Bergen nach Massengräbern, etwa nach den 43 von Ayotzinapa, die uns noch immer fehlen. Der Geruch der Stäbe soll, wenn sie aus dem Boden gezogen werden, ihren Standort verraten. Statt sie zu unterstützen, kriminalisiert der mexikanische Staat diese Eltern und überwacht sie mit dem Programm Pegasus. Statt den Drogenkrieg zu beenden, wird das Land militarisiert. Ich muss an einen verzweifelten Ausruf aus der Türkei denken: „Ich bin unglücklich in meiner Sprache. Wir sagen seit Jahren nur solche Sätze wie: Sie werden sie aufhängen. Wo waren die Köpfe? Man weiß nicht, wo ihr Grab ist. Die Polizei hat die Leiche nicht freigegeben! Die Wörter sind krank. Meine Wörter brauchen ein Sanatorium, wie kranke Muscheln. Es gibt eine Stelle am Ägäischen Meer, wo drei Ströme zusammenkommen. Man bringt Säcke mit Muscheln aus Istanbul, Izmir, Italien dorthin, die im schmutzigen Wasser krank geworden sind. Das saubere Wasser aus den drei Strömen heilt ein paar Monaten die erkrankten Muscheln. Dieses Stück Meer nenne die Fischer Muschelsanatorium. Wie lange braucht ein Wort, um wieder gesund zu werden? Man sagt, in fremden Ländern verliert man die Muttersprache. Kann man nicht auch in seinem eigenen Land die Muttersprache verlieren?” (²)

Eine Möglichkeit solcher Heilung verspricht die Musik. Und die geht heute weiter, auch in der Unterkunft, die wir nach dem Vorbeigehen an einer weiteren Militärübung erreichen. Bis in die Nacht wird gespielt, auch wenn es morgen, in wenigen Stunden (hier in Quintana Roo ist es eine Stunde später als im restlichen Land), mit einem intensiven Programm weitergeht. Eine zusätzliche Möglichkeit der Heilung wurde heute oft erwähnt: Das Wasser. Und da wir heute in einem kleinen Hotel unterkommen, in dem wir unsere Hängematten und Zelte aufschlagen können, endet die gesamte Karawane, wie könnte es anders sein, heute im Wasser: Im kleinen Pool mit Mini-Rutsche, der uns nach einem Tag weiterer Geschichten von Ausbeutung und Verfolgung das Schlechte vergessen lässt.


(¹) Felipe Carrillo Puerto wurde von den Mayas unter dem Namen Noj Kaaj Santa Cruz Xbalam Naj gegründet. Während des Kastenkrieges war sie das Zentrum der Cruzo'ob Maya und wurde später von der mexikanischen Armee erobert. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde sie von General Ignacio A. Bravo in Santa Cruz de Bravo umbenannt und war bis in die 1920er Jahre die Hauptstadt des Territoriums von Quintana Roo; später wurde sie an die Maya zurückgegeben. Im Jahr 1930 erhielt sie ihren heutigen Namen zu Ehren des sozialistischen Gouverneurs von Yucatan, Felipe Carrillo Puerto.

(²) Emine Sevgi Özdamar, Seltsame Sterne starren zur Erde (1946).

▪ Fotos: Recherche AG | medios de Abajo | Medios Libres | TejemediXs | Ya Basta Êdî Bese | CNI México | Desinformémonos |Voices in Movement

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