Reisetagebuch: Der Süden widersteht – Tag 5

Der fünfte Tag der Protestreise der Karawane „Der Süden widersteht“ gegen Zerstörungsprojekte im Südosten Mexikos ist geprägt von einem Angriff auf das Campamento Tierra y Libertad, den Folgen der Klimakatastrophe und einem Besuch in El Bosque.

29. April 2023

Wahrlich, der Sonne gleich liebe ich das Leben und alle tiefen Meere. Und dies heißt mir Erkenntnis: alles Tiefe soll hinauf! (Nietzsche)

Wir schlafen in und vor der Kirche ein, und üben ob der Chaquistes – Bartmücken, die eher beißen als stechen – wie schnell sich eine Kirchentür öffnen und schließen lässt. Erst mit der Veröffentlichung eines Comunicado der EZLN zum Angriff auf die Genoss:innen vom Camp „Tierra y Libertad“ legen wir uns hin:

„Gestern wurde die nationale und internationale Karawane ‚El Sur Resiste‘ im Kampf gegen den Interozeanischen Korridor, den Maya-Zug und alle Todesprojekte dieser repressiven Regierung, die den Interessen des Großkapitals dient, im Campamento Tierra y Libertad empfangen, mit dem Ziel, den Widerstand der Völker des Südens, Mexikos und der Welt zu verbinden, wobei nicht verschwiegen werden soll, dass die Karawane seit Beginn am 25. April in Pijijiapan, Chiapas, permanent durch die Bespitzelung der Regierung und eine endlose Anzahl von militärischen Kontrollpunkten behindert und schikaniert wird. Mit der von den Militär- und Polizeikorporationen orchestrierten Aktion gegen das Campamento Tierra y Libertad wird uns einmal mehr klar, dass die derzeitigen Regierungen im Dienste der großen transnationalen Konzerne stehen und dass Militarisierung, patriarchalische Gewalt und Repression die Mittel sind, die sie gewählt haben, um dem Kampf und Widerstand unserer Völker gegen den Interozeanischen Korridor und den Maya-Zug, gegen kapitalistische Enteignung und Krieg entgegenzutreten.“ (¹)

Inzwischen ist zumindest bekannt, wohin die rechtswidrig Verschleppten gebracht wurden: Sie sind in Oaxaca, der Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates, gefangen. UCIZONI berichtet:

„29. April 2023. Nach der versuchten Räumung des Streikpostens auf der Straße von Mogoñe Viejo nach Vixidu gestern Morgen blockierten die Bäuer:innen von Mixe acht Stunden lang die Transistmica Straße an der Malatengo-Brücke und stellten den Streikposten und das Lager von ‚Tierra y Libertad‘ wieder her. Heute um 9 Uhr morgens gab es jedoch einen neuen Versuch, sie zu räumen, als Polizei und Marine in das Gebiet eindrangen, was dazu führte, dass die Alarmglocken läuteten und sich eine Hundertschaft von Bäuer:innen neu formierte, woraufhin sich die staatlichen Kräfte zurückzogen. Die sechs festgenommenen Genoss:innen wurden der Staatsanwaltschaft in Oaxaca-Stadt vorgeführt, wo sie bis vor einer Stunde keinen Zugang zu ihren Anwälten hatten. Vor kurzem haben Mitglieder der Organisation MAIZ in einem Akt der Solidarität die Eingänge der Staatsanwaltschaft in Huajuapan de Leon, Oaxaca blockiert. Die Genoss:innen vom Lager Tierra y Libertad danken der Caravana El Sur Resiste und Dutzenden von indigenen Organisationen, Bauern, Gewerkschaften, Frauen, Gemeinschaftsradios, Kleinhändlern, Stromverbraucher:innen, Gemeinden und Kollektiven aus dem ganzen Land für ihre Solidaritätsbekundungen und begrüßen die Solidaritätsaktionen, die in Deutschland und Spanien stattfinden, sowie die Unterstützung des Nationalen Indigenen Kongresses. Herzlichst PCI-UCIZONI.“

Nach einem schnellen Frühstück fahren wir ins Stadtzentrum von Villahermosa, welches abseits des schönen Vororts am großen Fluss ein Industriezentrum ist. Zudem bewegen wir uns nun in Gebieten, in denen der mexikanische Präsident, der hier geboren wurde, noch große Beliebtheit genießt. Schnell laufen wir daher zum Plaza Juarez, auf dem die heutige Kundgebung stattfindet, begleitet von Spitzeln und der Policia Federal. Schnell werden auch die Banner aufgehängt, denn mehrere Rede- und Kulturbeiträge stehen auf dem Programm, an einem Tag, der uns aus der großen Stadt noch an eine verschluckte Gemeinde am, nein, im Meer führen wird.


Zunächst wird allgemein auf die Vertreibungen im Bundesstaat Tabasco hingewiesen, und eine Verbindung zu den Entwicklungen der Megaprojekte „interozeanischer Korridor“ und „Tren“-Maya hergestellt. Der bekannten Aufzählung aus dem lakandonischen Dschungel („Ein Dach, Land, Arbeit, Brot, Demokratie, Freiheit“) folgt die Rede der compañeras aus Villahermosa, die unter den gleichgültigen Augen des steinernen Benito Juarez‘, der dem Platz seinen Namen aufdrängt, die Probleme ihrer Stadt vor den Zuhörenden ausbreiten:

„Wir hatten große Hoffnung in die [neue] Regierung der 4T [von AMLO] gesetzt. Und was war dessen erste Amtshandlung hier in unserem Bundesstaat? Das Einschränken des in unserer Verfassung festgelegten Demonstrationsrechtes, die Erhöhung der Stromkosten. Eine weitere Gesetzesreform beendete die Demokratie in Tabasco: Nun ernennt der Gouverneur die Abgeordneten, während sie ihn immer wieder im Amt bestätigen.“

So geht es weiter, Thema für Thema. Eine Hoffnung nach der anderen wurde enttäuscht.

„Reden wir nun über das Problem der Gewalt gegen Frauen: Femizide, Vergewaltigungen, häusliche Gewalt - immer weniger davon wird aufgeklärt. 2018 wurden 15 Prozent der Verbrechen angeklagt, heute sind es vier Prozent. Und reden wir nun, nach den Körpern Tabascos, über die Erde, den Boden Tabascos: Die großen Monokulturen schaden dem Boden, vor allem aber die Raffinerie, die ihn von innen ausbeutet: Alles wird vergiftet, und besonders die Kleinbäuer:innen, die Indigenen leiden darunter. Es ist ein Krieg von Pemex [der staatliche Mineralölkonzern] gegen die Indigenen, unser Erbe und die Natur, da sehen wir also auch keinen Unterschied zu den vergangenen Regierungen. Tabasco wird zu einem giftigen Friedhof.“

In den großen Raffinerien von Dos Bocas, die rot glühend den berglosen Horizont erhellen, kam es seit 2008 zu mindestens 47 Explosionen: „Nur acht davon seien Unfälle gewesen, sagen sie, der Rest Vandalismus. Wir wissen, das stimmt nicht. Reden wir wieder über Körper, über eine der im höchsten Maße vulnerablen Gruppen.“ Nun geht um die Migration.

„Die Politik scheint das Gesetz der Bewegungsfreiheit zu vergessen, genau wie die generelle Achtung der Menschenrechte, festgeschrieben in den ersten Artikeln unserer Verfassung: Die Politik redet von humanitären Visa, doch in Wirklichkeit sperren sie die Menschen in Gefängnisse ein, trennen sie von ihren Familien, geben ihnen nicht ausreichend zu Essen - und bringen sie um (selbiges passiert in Deutschland und Europa) (²). Die Regierung ist stolz auf den Wachstum der Wirtschaft durch die remesas (³), verschweigt aber, dass sie die Folge der Flucht aus Unsicherheit und Ungerechtigkeit sind.“ Es wird an die 40 Verbrannten von Ciudad Juarez erinnert, und Gerechtigkeit gefordert: „Die wahren Verantwortlichen von oben sollen bezahlen, nicht nur kleine Mittäter von unten. Dass sie es nicht machen wie in Tuxtla (Chiapas), [wo 2021 54 Menschen, darunter viele Kinder, starben, und keine Gerechtigkeit hergestellt wurde].

Im Anschluss, und als Teil der „Befreiungstheologie als Kampf von unten“, spricht ein örtlicher Jesuiten-Pate einige Worte, verurteilt die großen Raffinerien und dankt der Karawane. Auch an die 43 „Verschwundenen“ von Ayotzinapa wird erinnert.

Dem Pater folgt ein Gewerkschafter, der von Einschränkungen der Gewerkschaftsrechte berichtet, von nicht bezahlten Lehrkräften, von Kriminalisierung friedlichen Protests.


Anschließend wird das Wort dem Delegierten des Kollektivs Corazon Punta Verde übergeben, Anhänger der Sexta Decleración de La Selva Lacandona. Er berichtet von einem Widerstand, „der seit mindestens 530 Jahren andauert, begonnen mit der schlecht benannten Eroberung Tabascos, der Schlacht von Centla, dem Krieg gegen die indigenen Gruppen der Maya und Nahuas. (Genau hier entstand mit Santa Maria de La Victoria die erste spanische Stadt in dem, was wir heute Mexiko nennen). Mindestens seit 530 Jahren findet die Ausbeutung der indigenen Völker und ihrer Territorien statt, „von jenen, die sich als Herren und Herrscher ansehen“. Nach einem historischen Exkurs wird die aktuelle Politik als Teil fortgeführter Unterdrückung präsentiert:


„Eine ebenso gepriesene wie manipulierte Demokratie ist Teil der gegenwärtigen Strategie, diese will uns weiterhin glauben machen, dass wir eine Wahl haben, dass wir Teil der Elite sind, die in Wirklichkeit eine Parteistrategie geschaffen hat und aufrechterhält, die uns spaltet, uns trennt, uns gegeneinander aufhetzt: Teile und herrsche. In der Landfrage finden heute wie damals die Enteignung, die Vertreibung, die Ermordung, die Inhaftierung und das Verschwinden von sozialen Kämpfer:innen, Verteidiger:innen der Gemeinden und Aktivist:innen statt, von Frauen und Männern, die im ganzen Land das Wenige, das sie uns gelassen haben, würdig verteidigen. Das System der Ejidos und des Gemeindelandes wurde mit der Reform von Artikel 27 der mexikanischen Verfassung durch Carlos Salinas de Gortari zerstückelt und scheint bis heute unantastbar, es wird von den Neoliberalen nicht angetastet, weil es Teil des rechtlichen Instrumentariums ist, welches es den Regierungen erlaubt, das Land an private und/oder ausländische Interessen zu verschenken.“ –

„Heute erinnert uns die Karawane daran, dass wir vor 15 Jahren bereits gegen den Plan Puebla Panama gekämpft haben, der später Plan Mesoamerica genannt wurde, hier in Villahermosa haben wir sogar eine Karawane gegen den PPP [Plan Puebla Panama] organisiert, heute haben sie ihn als Regierungsprojekt erneuert und er wird Realität in den Händen von Regierungen, die sich seltsamerweise nicht als neoliberal bezeichnen. Doch das System ist das gleiche, die Projekte sind die gleichen, nur wer die große Rancho verwaltet, das ändert sich. Ich lese nun einen Auszug aus einem Dokument von Alfredo Viteri aus dem Jahr 2004 vor, in dem er die Vision und Kosmovision der Quechua-Völker des ecuadorianischen Amazonasgebietes aufgreift. ‚Unser Territorium ist weder eine Sache, noch eine Reihe von Dingen, die genutzt, ausgebeutet werden können. Unser Territorium mit seinen Dschungeln, Bergen, Flüssen, Lagunen und Feuchtgebieten, mit seinen heiligen Stätten, in denen die supai (Schutzgötter) leben, mit seinen schwarzen, roten und sandigen Böden und Tonen ist eine lebendige Einheit, die uns Leben schenkt, die uns mit Wasser und Luft versorgt; die sich um uns kümmert, uns Nahrung und Gesundheit gibt; die uns Wissen und Energie gibt; die uns Generationen und eine Geschichte, eine Gegenwart und eine Zukunft gibt; die uns Identität und Kultur gibt; die uns Autonomie und Freiheit gibt. Zusammen mit dem Territorium ist also das Leben, und zusammen mit dem Leben ist die Würde; zusammen mit dem Territorium ist unsere Selbstbestimmung als menschliche Wesen.‘

Deshalb prangern wir heute an, dass die Indigenen Völker weiterhin den Angriffen des Großkapitals und den Täuschungen der falschen Volksvertreter ausgesetzt sind, die im Übrigen den Partikularinteressen der Konzerne, der Parteien, der großen transnationalen Unternehmen und des globalen Großkapitals gehorchen und nur sehr selten wirklich auf die Bedürfnisse des Volkes eingehen. Unsere Worte sind all jenen gewidmet, die auf die eine oder andere Weise einen Samen in diesem riesigen Garten des Widerstands gesät haben, der eines Tages vollständig von, für und aus dem Volk erblühen wird.“

„Dieser Monat April ist ein besonderer Monat, denn es ist der Todestag von General Emiliano Zapata, der Genossin Betty Cariño und von Jyri, von Compa Pedro und sicherlich von vielen, vielen anderen in anderen Gegenden, die aus der Unermesslichkeit heraus weiterhin unsere Schritte begleiten.“

Zapata lebt und der Kampf geht weiter! Samir Flores lebt und der Kampf geht weiter!

...

Ein Vertreter aus „La Isla“ schneidet ein weiteres Thema an: Das Wasser. Dies wird immer stärker privatisiert, und entsprechend unbezahlbar. Am 2. April dieses Jahres hatten die compas daher zu einer Demonstration in Mexiko-Stadt aufgerufen, der sich Delegierte aus 18 Bundesstaaten anschlossen: „Wir liefen zum Präsidentenpalast, doch sie wollten nur fünf Delegierte empfangen. Menschen aus 18 Bundesstaaten mit Wasserproblemen, und nur fünf sollen berichten? Nein, wir kehrten um, und wir kämpfen in unseren Territorien weiter.“

El Agua es un tesoro, que vale mas que el oro. | Das Wasser ist ein Schatz, der mehr wert ist als Gold.


Danach sprechen noch Genoss:innen des Verbunds der Trecicleros im nahe gelegenen Mascupana. Die Stadt ist eine Stadt der Armen. Viele Menschen dort können sich kaum ausreichend Lebensmittel leisten, es gibt keine Arbeit. Viele ernähren ihre Familie allein durch das Fahren großer Dreirad-Taxen, die oft unsicher sind, viele fahren, unglücklich und perspektivlos, alkoholisiert. „Doch nun lässt uns die Regierung nicht nur im Stich, sie greift uns an. Wir sollen 15.000 bis 16.000 Pesos (knapp 800 Euro) als Steuern für die Fahrgertelle zahlen. Das können wir nicht, keiner von uns ... Sie behandeln uns, wie soll ich es ausdrücken“, überlegt Jose verzweifelt, „... despotisch!“ Doch die Menschen von Mascupana kämpfen: Am 15. Mai wollen sie demonstrieren - nicht nur gegen die neuen Abgaben: „Wir sagen auch Nein zur Verschmutzung der Stadt, Nein zum Abholzen der Bäume, Nein zu Angriffen auf die Tiere, und wir fordern Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit.“


Aktuell entfliehen dieser Arbeitslosigkeit viele - Richtung USA, oder, wir nähern uns der Peninsula: Nach Cancun. Dagegen arbeitet auch Roselio von der Organisation Fuerza Planetaria aus derselben Stadt: „Wir säubern unsere Lagune, wir wollen nicht, dass die Fische und Schildkröten verschwinden, und wir wollten dort auch Orangen und Zitronen anbauen, damit alle davon essen können ... Doch die Regierung verbietet es uns.“ Aber auch die Fuerza Planetaria wehrt sich - und erzählt stolz von Wandgemälden des Protests: „Wir malen ‚NEIN zum Tren Maya‘, ‚Die Macht ist beim Volk und nicht beim Präsidenten‘, ‚Gerechtigkeit für die 43‘ (verschwundenen, mit illegal vom deutschen Hersteller Heckler und Koch verkauften Waffen entführten Studenten von Ayotzinapa), ‚Gerechtigkeit ist im Kapitalismus verboten‘, ‚Emiliano Zapata bricht die Ketten‘, und wir malen die ‚Schneckenhäuser unser zapatistischen Geschwister mit ihren Forderungen nach Land, Arbeit und Freiheit‘. Und compas, wir helfen uns selbst, mit Essen und allem weiteren, wir helfen uns gegenseitig. Die Regierung tut das nicht.“

Es folgt langer Applaus und viele Sprechchöre, die ins Kulturprogramm überleiten: Gedichte, Musik und Rap, die Jugendlichen compas aus Veracruz spielen wieder Gitarre, wie am Erinnerungsabend für Bety (die Gitarren haben sich im heißen Bus verstimmt, „habt Geduld, die Instrumente sind lebende Wesen“.) Eine compañera liest 15 Minuten lang ein Gedicht zum Kampf der Frauen vor, es ist ihr Herz.


Allen geht es um die Denunzierung der Intoleranz gegenüber ihrer eigenen, alternativen Lebensweise. Der Ort ist gut gewählt, leuchten doch, wie gesagt gleichgültig, die berühmten Worte Juarez‘ in goldenen Lettern auf das Schauspiel hinab, überhängt von unseren Bannern: „El respeto al derecho ajeno es la paz“ („Respekt vor dem Recht des anderen bedeutet Frieden“).

Der Wald, der nun Meer ist - Besuch im überschwemmten „El Bosque“


Wir verlassen die Industriestadt Villahermosa und fahren weiter Richtung Küste. Kein karibisches Paradies, sondern die volle Wucht der Klimakatastrophe erwartet uns. Death in Paradise. Es wird immer heißer. Viele, die im Bus, dessen Klimaanlage den Kampf gegen die Hitze verloren hat, schlafen, wachen auf, da ihnen dicke Schweißtropfen durch die Augenbrauen ins Gesicht laufen. Ein riesiger Fluss, der Rio Grijalva, kündiget das baldige Meer an. Am Ufer stehen abwechselnd kleine Hütten und größere Transportschiffe. Viele Häuser stehen fast im Wasser, auch weil direkt hinter ihnen Monokulturen beginnen, Mülldeponien, Straßen. Weiter am Horizont dann tiefgrüne Mangrovenwälder, wie zwei Zeiten, die sich am selben Ort gegenüberstehen. Riesige Eidechsen laufen verwirrt zwischen diesen beiden Zeiten hin und her, zwischen verrottenden Busstationen, auf denen „El gobierno de cambio cumple“ steht und der Pozoleria „La Conquista“. Es hat eine gewisse Ironie, das kurz vor der Comunidad, die alles, insbesondere Arbeitsmöglichkeiten verloren hat, ein riesiges Büro des ISSSTE steht, des Instituto de Seguridad y Servicios Sociales de los Trabajadores del Estado.

Schon 30 Kilometer vor der Küste beginnen die Folgen der Überschwemmungen: Überschwemmte Felder und Wälder, soweit das Auge reicht. In manchen Wasserlachen grüne Algengrütze, auf anderen riesigen Pfützen Teppiche aus Seerosen, Vögel baden und jagen. Dann taucht das Meer auf - und zwar näher als gedacht. Der Bus steht fast im Wasser, die Straße bröckelt bereits in den Ozean. Einige Häuser stehen mitten im Wasser, neben Mangroven, dessen Wurzeln so hoch wie die eingestürzten Häuserwände sind.


Das ist der Ortseingang des Fischerdorfs El Bosque. Fast 500 Meter weiter weg war hier vor wenigen Jahren das Wasser, 50 Häuserreihen sind nicht mehr zu sehen, genauso wie der eigentliche „El Bosque“, der Wald, der hier einst stand. Es ist ein Beispiel der Klimakatastrophe, des Anstiegs des Meeresspiegels, wie er bereits in vielen Teilen der Welt zu sehen ist, und in ganz naher Zukunft, morgen, noch viel mehr zu sehen sein wird. Aber wir verdrängen das. Auch über El Bosque wird kaum gesprochen. Deshalb ist die Karawane hier, mit Medien aus aller Welt, mit Menschen vom Ozean auf der anderen Seite des Isthmus, die mit ähnlichen Problemen kämpfen, deshalb werden wir freudig empfangen - nur die Policia Federal, die bewaffnet und vermummt bereits auf die Ankunft des Südens, der widersteht, wartet, lächelt nicht. Es ist lächerlich, wie sie da vor dem Meer stehen, als könnten sie es mit Schüssen aufhalten, es ist grotesk, wie sie die Ruinen bewachen, als würde eine Gefahr für den Staat von ihnen ausgehen. Gegenteiliges ist der Fall: Bis heute wartet die Gemeinde auf eine Umsiedlung. 70 Familien haben ihre Häuser dauerhaft verloren, für die anderen ist es nur eine Frage der Zeit - jedes Jahr verschwindet eine Häuserreihe mehr im Meer. Und es geht immer schneller: Seit 2019 wurden die Fluten fatal, 2020 und 2021 genauso, „und 2022 war eine Katastrophe“.

 

 

 


Eine Frau lehnt mit forderndem Blick in der ehemaligen Eingangstür ihres schönen rosa Hauses, an ihr vorbei blickt man auf das wilde Meer, dessen Wellen über die eingebrochene Wand in das Wohnzimmer schwappen. Andere zeigen uns Fotos ihrer Häuser, wie sie vor wenigen Jahren aussahen, wir sehen jetzt kaum mehr das Dach. Die Fischerfamilien haben ihr Haus verloren, dessen Überreste dienen nun fischenden Pelikanen als Aussichtspunkt. Doch die meisten Pelikane schweben, wie solidarisch mit den Fischern, über uns, an der Grenze zwischen Land und Meer.

Es gibt kaum noch Strom in El Bosque, kaum Wasser, das nicht salzig ist. Mehr als die Hälfte der 80 Familien hat das Dorf bereits verlassen, andere harren aus. Sie alle, Geflohene wie Gebliebene, erwarten vom Staat eine Umsiedlung, und zwar eine an Territorien am Meer – „wir sind Fischer, wir alle“. Einfach „nach hinten“ ausweichen können sie nicht. Auch hier ist alles nass, das Land gehört nicht ihnen, und Monokulturen und andere Großprojekte beanspruchen zunehmend die Alternativen. Unglücklich erzählen sie von Gelegenheitsjobs in der Stadt, die sie nun verrichten müssen. „Wir könnten hier noch fischen, aber wir können hier ja nicht mehr wohnen.“ Stolz erzählen sie von der alten Schule, die nun im Wasser steht, von ihrem schönen Frühstücksraum, der nicht mehr zu sehen ist. Eine Kirche hat das Meer an sich gerissen, und der Ruine gegenüber findet in der Verbleibenden ein Gottesdienst statt. Während die eine Hälfte der Gemeinde die Karawane durch das Dorf führt, betet sich die andere in der (evangelikalen?) Predigt in Extase, jemand schreit schrill „Gott ist hier, Gott ist hier“, er kommt sogar gegen das Meeresbrausen an. Das alles sind keine Szenen einer apokalyptischen Zukunft, sondern Einblicke in eine ganz normale Gegenwart, in die uns die Erderwärmung schickt, einer ganz normalen Gegenwart, die wir im Globalen Norden nicht sehen wollen.

 

 


Es ist schließlich das Bild des kapitalistischen Kolonialismus: Diese Fischerfamilien hier haben nichts zum Klimawandel beigetragen. Doch sie leiden als Erste am meisten darunter. Wer wird die großen Unternehmen und das eine Prozent der Superreichen zur Verantwortung ziehen, welche dies angerichtet haben? Warum stehen die großen Hotelanlagen in Cancun noch? Weil dort, wo die Weißen Urlaub machen, die eigentlich ebenfalls längst überschwemmte Landzunge an der Lagune jährlich mit Sand, der sonst wo herkommt, aufgeschüttet wird. Wären doch die großen Hotelanlagen und Unternehmenszentralen Ruinen, dann könnte hier noch gefischt und gespielt werden.

Stattdessen sehen wir dort, wo Hütten, Fischerboote und Bäume standen tote Fische, Krebse, Plastikflaschen, geplatzte Fußbälle und Träume, Reifen, Schaumstoff, entwurzelte Bäume, Scherben, zerbrochene Träume, Kinderpuppen, Deodosen, Kokosnüsse, Braunalgen (doch darüber soll an anderer Stelle berichtet werden). Der Wald wird fort, und Müll angespült. Kinder baden dort, wo früher ihr Haus stand.

 

 


Wir laufen am Strand entlang, es wirkt nun, als sei das Ende des Dorfes erreicht, doch in Wirklichkeit laufen wir am Dorf vorbei, es steht hundert Meter rechts von uns im Wasser. Dann macht die Landzunge, neu geformt, eine Kurve, und über einen weggespülten Steg hinweg blicken wir auf einen unendlich wirkenden Mangrovenwald am Horizont, auf den wir nun zulaufen, vom Meer weg, El Bosque liegt am äußersten Zipfel. Der Weg ist wie eine Zeitreise zurück, alle hundert Meter ein Jahr, vom Wasser zum Sand in den Wald, eine Überschwemmung weniger. Am Leuchtturm aus Stahl, der noch nicht im Wasser steht, biegen wir wieder ein zu dem, was vom Dorf übrig ist. Am Turm sitzen ein paar Fischer ohne Haus und trinken Bier, andere reparieren Fischernetze. An einem großen Haus, das noch steht, und das zur Ankunft der Karawane bemalt wurde („Nuestras raizes son las Comunidades“), essen wir gemeinsam - es gibt, selbstverständlich, frisch gefangenen Fisch.

 


Und die Menschen hier haben Mut und Hoffnung: „Wir werden weiterkämpfen, wir werden weitermachen, alle zusammen werden wir das schon schaffen“ – „El Bosque wir überall sein, überall gehört werden, ihr seid nicht allein.“ Das ist ein Versprechen, dass wir nicht allein einlösen können. Bitte erzählt, wenn ihr dies lest, diese Geschichte.

 

 


Einen frohen 1. Mai morgen. Mögen eines Tages die richtigen Gebäude Ruinen sein. (⁴)

„El Bosque“ ist ein schreiendes Beispiel gegen den Wahnsinn der Megaprojekte, gegen die sich diese Karawane richtet: Abgesehen von der massiven Umweltzerstörung, von den Menschenrechtsverletzungen, was denken sich die Regierungen und Unternehmen beim Implementieren von riesigen Hotelanlagen und Raffinerien (!), von Industriehäfen und Fabriken an dieser Küste, die offensichtlich (!) überschwemmt werden wird? Hier werden Milliarden ausgegeben, um die Klimakrise weiter anzuheizen. Hurricanes nehmen in dieser Region jedes Jahr an Stärke zu, die Raffinerien werden auslaufen, Menschen werden sterben, und Mangrovenwälder, die die Fluten als einzige aufhalten könnten, werden gerodet und kontaminiert, etwa durch den Maya-Zug.

Nun fahren wir zum „Tren Maya“, und die Guardia Nacional und die Polizei lassen uns nicht mehr alleine. Sie fahren an uns vorbei, sie steigen aus, wenn wir essen, sie schauen, wo wir schlafen - und das ist, in Candelaria ankommen, eine Halle neben der Baustelle des zerstörerischen Zugprojekts, welches das Land verändern wird. Vor einem halben Jahr stand die riesige Konstruktion, die ihre Schatten auf uns wirft, noch nicht. Sie wollen fertig werden, in diesem Jahr. Aber der Süden widersteht.

Die Fischer wissen, dass das Meer gefährlich und der Sturm schrecklich ist, aber sie haben diese Gefahren nie als ausreichenden Grund gefunden, an Land zu bleiben. (V.v.G.)


Titelfoto: Die Karawane mit der Gemeinde von El Bosque am alten Hafen. Vor über 500 Jahren legte hier der „Eroberer“ Cortez an. Doch der Süden widersteht, noch immer.


(¹) Vollständiges Comunicado: „Wir prangern wütend an, dass eine große Gruppe von Mitgliedern der Nationalgarde, der mexikanischen Marine und der Polizei des Bundesstaates Oaxaca die Teilnehmer des Camp Tierra y Libertad gewaltsam angegriffen, das Camp zerstört und die Habseligkeiten der dort anwesenden Campesinos gestohlen hat. Auf besorgniserregende Weise wurden die Bäuer:innen von Mixe MARÍA MAGDALENA MARTÍNEZ ISABEL, FERNANDO HERNÁNDEZ GÓMEZ, ADELA SEVERO TEODORO, ESPERANZA MARTÍNEZ ISABEL, ELIZABETH MARTÍNEZ ISABEL UND ELIODORO MARTINEZ ISABEL festgenommen, ohne dass ihr Aufenthaltsort bekannt war, und die Genossin ADELA SEVERO TEODORO wurde von Mitgliedern dieser Militärkräfte geschlagen. In diesem Sinne verurteilen wir, wie schon bei anderen Gelegenheiten, den vorsätzlichen Einsatz von Militär- und Polizeikräften durch den Staat, um Frauen anzugreifen und Terror zu erzeugen.

Gerade heute hat das Camp Tierra y Libertad, das von der Union der indigenen Gemeinden der nördlichen Zone des Isthmus organisiert wurde, 61 Tage lang die Eisenbahngleise des Isthmus von Tehuantepec im Abschnitt Mogoñe Viejo-Vixidu blockiert, um gegen die Durchführung des Megaprojekts Interozeanischer Korridor zu protestieren und um die Arbeiten zur Modernisierung der Eisenbahn zu lähmen.

Gestern wurde die nationale und internationale Karawane ‚El Sur Resiste‘ im Kampf gegen den Interozeanischen Korridor, den Maya-Zug und alle Todesprojekte dieser repressiven Regierung, die den Interessen des Großkapitals dient, im Campamento Tierra y Libertad empfangen, mit dem Ziel, den Widerstand der Völker des Südens, Mexikos und der Welt zu verbinden, wobei nicht verschwiegen werden soll, dass die Karawane seit Beginn am 25. April in Pijijiapan, Chiapas, permanent durch die Bespitzelung der Regierung und eine endlose Anzahl von militärischen Kontrollpunkten behindert und schikaniert wird. Mit der von den Militär- und Polizeikorporationen orchestrierten Aktion gegen das Campamento Tierra y Libertad wird uns einmal mehr klar, dass die derzeitigen Regierungen im Dienste der großen transnationalen Konzerne stehen und dass Militarisierung, patriarchalische Gewalt und Repression die Mittel sind, die sie gewählt haben, um dem Kampf und Widerstand unserer Völker gegen den Interozeanischen Korridor und den Maya-Zug, gegen kapitalistische Enteignung und Krieg entgegenzutreten.

Wir fordern die sofortige Freilassung unserer Compañeras und Compañeros MAGDALENA MARTÍNEZ ISABEL, FERNANDO HERNÁNDEZ GÓMEZ, ADELA SEVERO TEODORO, ESPERANZA MARTÍNEZ ISABEL, ELIZABETH MARTÍNEZ ISABEL und ELIODORO MARTÍNEZ ISABEL; die Bestrafung derjenigen, die sich der körperlichen und geschlechtsspezifischen Gewalt, des Raubes und der Repression gegen das Tierra y Libertad-Camp schuldig gemacht haben; sowie Garantien für ihren Verbleib und für den freien Transit und die Aktivitäten der nationalen und internationalen Karawane ‚El Sur Resiste‘.“

(²) Erst heute einigte sich die deutsche Ampel-Regierung auf eine noch brutalere, repressive Migrationspolitik: https://twitter.com/rav_gs/status/1652035439648186385

(³) Geld, welches Mexikaner:innen und Andere, die in den USA leben und arbeiten, nach Hause schicken.

(⁴) Aus den Cancun-Hotels kann man wenigstens noch fischen, wenn sie untergehen, mit der Angel einfach immer einen Stock höher wandern, sie sind ja 100 Meter hoch.

Was europäische Unternehmen mit den Megaprojekten zu tun haben, erfahrt ihr hier: https://deinebahn.com/ 

Für aktuelle Informationen rund um die Karawane „Der Süden widersteht“:

Twitter: @TrenMayaStoppen @AgRecherche

Websites: https://www.elsurresiste.org/https://deinebahn.com/