Interkultureller Austausch mit Rojava
Die Hintertorperspektive e.V. versteht den Fußballsport als inklusiven und partizipativen Teil der Gesellschaft. Zur Erweiterung ihres eigenen Blickwinkels und zur Vernetzung mit Menschen außerhalb Deutschlands, kam bei den Mitgliedern des Vereins der Wunsch auf, einen interkulturellen Austausch in Kombination mit einer Bildungsreise durchzuführen. Die Wahl fiel auf die Demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES), in der sich Menschen nach jahrzehntelangem Kampf gegen das autoritäre Assad-Regime und den selbsternannten Islamischen Staat (IS) eine basisdemokratische Gesellschaft geschaffen haben. Bei ihrer Rückreise wurden die Vereinsmitglieder am Stuttgarter Flughafen durch die Bundespolizei teils mehrere Stunden verhört. Sämtliche digitale Speichermedien der Reisenden wurden beschlagnahmt.
Mehrstündige Verhöre der Fußballfans
In einer Erklärung legte der Verein den Ablauf des Geschehens dar: „Mit einem Gefühl voller Energie für die kommende Vereinsarbeit landete die Reisedelegation wieder in Deutschland. Von Stuttgart sollte es am gleichen Tag noch zurück nach Jena gehen, doch leider kam es anders. Am Flughafen wurden die Mitglieder unseres Vereins von der Bundespolizei an der Passkontrolle abgesondert und ohne Angabe von Gründen in einzelne Räume verbracht. Die
Handys mussten bereits vor der Maßnahme abgegeben werden, teilweise mit der Begründung des Strahlenschutzes und mit der Aussage, diese ‚schon wieder zu bekommen‘.
Anschließend wurden alle Reisenden getrennt mehrere Stunden verhört, wobei uns anfangs weder das Recht auf Kontakt zur Anwältin zugestanden noch ein konkreter Vorwurf genannt wurde. Daraufhin verweigerten alle eine weitere Aussage.“ Die Maßnahmen dauerten laut der Hintertorperspektive teils bis zu sechs Stunden an.
Verdacht auf „Linksextremismus“
Des Weiteren sei das gesamte Gepäck aller Reisenden intensiv durchsucht worden. Mit der Begründung der Gefahrenabwehr und dem Verdacht auf Verbreitung von
„linksextremem“ Gedankengut in Deutschland, inklusive der Möglichkeit auf Rekrutierungsversuche, habe die Bundespolizei jegliche digitale Datenträger in Form von Handys, SD-Karten, Kameras, Tablets und USB-Sticks beschlagnahmt. Nach aktuellen Informationen sollen sich die beschlagnahmten Geräte noch immer beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden befinden.
„Demokratiefördernde Vereinsarbeit in Deutschland bedroht“
Die Mitglieder der Hintertorperspektive e.V. zeigen sich entsetzt über das Vorgehen der Bundespolizei in Stuttgart: „Diese Maßnahme stellt einen erheblichen Grundrechtseingriff in unser
Privat- und Vereinsleben dar. Verurteilen möchten wir an dieser Stelle ganz klar, eine grundsätzliche Kriminalisierung unserer Personen und unseres Vereins. Das Vorgehen der Behörden zeigt wieder einmal, wie bedroht demokratiefördernde Vereinsarbeit aktuell in Deutschland ist und wie es Strukturen, welche für gesellschaftlichen Austausch einstehen, erschwert wird, ihre Arbeit zu betreiben. Wir fordern alle in diesen Maßnahmen beteiligten Stellen auf, die beschlagnahmten Gegenstände herauszugeben und einen weiteren Generalverdacht gegenüber unserem
gemeinnützigen Verein zu unterlassen.
Ferner möchten wir betonen, dass Organisationen, die sich mit Menschen anderer Kulturen und Länder auseinandersetzen, nicht wie Verbrecher zu behandeln sind, sondern einen wichtigen Beitrag in der internationalen und antirassistischen Jugendarbeit leisten. Des weiteren scheint es uns schleierhaft mit welcher Begründung die staatlichen Behörden jeglichen Austausch mit dem seit Jahrhunderten unterdrückten kurdischen Volk, dem Verdacht der terroristischen Propaganda unterstellen.“
Die Hintertorperspektive
Die Hintertorperspektive e.V. ist ein gemeinnütziger eingetragener Verein aus Jena, der seit vielen Jahren einen wichtigen Beitrag zu sozialen, kulturellen und sportlichen Angeboten in Jena und dem angrenzenden Umland leistet. Der Verein verbindet mit dem Sport Werte, auf deren Grundlage die Mitglieder den Fußball im Sinne eines interkulturellen und teilhabenden Austauschs nutzen wollen, um verbindende Elemente zwischen allen Akteur:innen zu finden. Seit vielen Jahren setzt sich die Hintertorperspektive aktiv gegen Diskriminierung im Ernst-Abbe-Sportfeld ein und gestaltet Vorträge zu gesellschaftlichen sowie sportlichen Themen.
Hintergrund der Reise
Um die eigenen Perspektiven zu erweitern und sich mit Menschen außerhalb von Deutschland zu vernetzen, entwickelten die Vereinsmitglieder den Wunsch eine Bildungreise zu unternehmen, die einen interkulturellen Austausch ermöglicht. Die Wahl fiel auf die Gebiete der DAANES, in der sich Menschen nach dem opferreichen Kampf gegen das Assad-Regime und den IS eine basisdemokratische Selbstverwaltung geschaffen haben, die eine Beteiligung aller Kulturen, Religionen, Geschlechter und Ethnien sicherstellt.
Der Verein schrieb in seiner Stellungnahme: „Nach wie vor müssen die Menschen sich dort mit Angriffen durch den aggressiven türkischen Staat als auch islamistischen Gruppen auseinandersetzen. Der türkische Staat als NATO Mitglied hält Teile des Gebietes seit mehreren Jahren besetzt. Regelmäßig werden insbesondere zivile Ziele und die Infrastruktur angegriffen. Die BRD hält weiterhin ihre engen diplomatischen Beziehungen zum türkischen Staat aufrecht und unterstützt diesen sogar mit schweren Waffen. Und das obwohl die Menschen in Nord- und Ostsyrien seit Jahren den einzig wirksamen Gegenpol zu radikal islamischen Strömungen im Nahen Osten bilden.“
Fußball als verbindendes Element
Die Erfahrungen der Reise bewerten die Vereinsmitglieder als sehr positiv: „Rückblickend bewerten wir unsere Bildungsreise als unglaublichen Einblick in eine Region, in der Menschen leben, die sich den Fußball auf Basis eines solidarischen und gemeinschaftlichen Miteinanders weiter ausbauen. Wir konnten Kontakte knüpfen, in den Austausch gehen, neue Ideen eines kollektiven Fußballs kennenlernen und unseren eigenen Horizont erweitern. Mit einem Gefühl voller Energie für die kommende Vereinsarbeit landete die Reisedelegation wieder in Deutschland.“
Erfahrungen der Reisegruppe
Die Vereinsmitglieder besuchten vor Ort ein Fußballspiel junger Nachwuchsspielerinnen. Hierbei übergaben sie Bälle, Ballpumpen und Netze, einen Trikotsatz sowie Schal und Wimpel des FC Carl Zeiss Jena. In einem Interview mit einer Fußballspielerin aus der ersten syrischen Liga bekamen sie einen Einblick in die Probleme sowie Chancen, denen Frauen sich im Fußball in Syrien gegenüber sehen. Hierzu schrieben sie: „So konnten wir auch die Bedeutung der Frauenbefreiung vor Ort an praktischen Beispielen nachvollziehen und ihre Bedeutung verstehen.“
Die Reisegruppe hatte auch Gelegenheit an den Newroz-Feierlichkeiten teilzunehmen. Des Weiteren besuchten sie die Familie der verstorbenen Trainerlegende „Kefo“, was ihnen bewusst gemacht habe, wie alltäglich die Angriffe des türkischen Staates auf das zivile Leben in Nord- und Ostsyrien sind. Kefo starb durch einen türkischen Luftangriff auf den Tişrîn-Staudamm, welchen die Türkei seit Dezember letzten Jahres kontinuierlich angegriffen hatte. Wie viele andere Menschen, hatte sich Kefo an der zivilen Friedenswache beteiligt, die seit Januar beständig versucht hatte, die weitere Bombardierung und eine daraus folgende riesige Umweltkatastrophe zu verhindern.
Kriminalisierung internationaler Solidarität
Immer wieder wird die internationale Solidarität mit der kurdischen Gesellschaft und der Einsatz für Frieden in Kurdistan von deutschen Sicherheitsbehörden angegriffen. Betroffene sehen sich häufig in ihren Grundrechten verletzt. Durchsuchungen und Verhöre bei der Wiedereinreise nach Deutschland aber auch Ausreiseverbote gehören zur gängigen Praxis. Die Begründung dafür ist immer wieder die angebliche Gefährdung der außenpolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland, was nicht mehr heißt, als dass die Erdoğan-Regierung der Türkei den Aufbau internationaler zivilgesellschaftlicher Verbindungen mit der kurdischen Gemeinschaft verhindert wissen will.
Erst im vergangenen Jahr sind mehrere Fälle, die diese Praxis betreffen, von deutschen Gerichten als rechtswidrig verurteilt worden.
Titelbild: Spieler:innen der Vereine Stêrk und Peyman mit der Delegation der Hintertorperspektive e.V. © Hintertorperspektive e.V.