Auch wenn die Provisional IRA 2005 die Waffen niederlegte, sind die Grundfragen des irischen Freiheitskampfs nicht gelöst. Die Widersprüche drohen erneut zu eskalieren. Die kurdische Tageszeitung Yeni Özgür Politika interviewte die nordirische Aktivistin Mo Mc Ghuil (36) über den irischen Freiheitskampf und die Bedeutung der kurdischen Freiheitsbewegung. Mc Ghuil war eine der 150 Internationalist:innen, die im Februar am langen Marsch „Freiheit für Öcalan, Frieden in Kurdistan“ von Frankfurt am Main nach Saarbrücken teilgenommen hatten.
Könnten Sie sich bitte vorstellen?
Ich wurde in Belfast, Irland, als Tochter katholischer Eltern geboren. Ich bin in Belfast in einer Familie aufgewachsen, die sich schon lange für die irische Unabhängigkeit einsetzt. Ich bin in einem Umfeld und einer Region groß geworden, die sich im permanenten Widerstand gegen den britischen Kolonialismus befand. Seit ich denken kann, interessiere ich mich für Politik. Das Leben jedes Kindes, das in unserer Region geboren wurde, ist mit der Politik verflochten. Ich bin als irische Aufständische aufgewachsen, denn meine Familie arbeitete gegen den britischen Kolonialismus, um sowohl unsere politische Identität als auch unsere Kultur und Sprache zu bewahren
Viele Mitglieder meiner Familie haben sich aktiv am irischen Freiheitskampf beteiligt. Einige von ihnen waren lange Zeit inhaftiert. Als ich ein Kind war, hatte meine Familie Diskussionen über Kolonialismus, Kapitalismus und Imperialismus geführt. In meiner Kindheit waren britische Soldaten in Nordirland stationiert. Wir Kinder empfanden uns als unglücklich, weil wir gezwungen waren, mit britischen Soldaten leben zu müssen. Wie jedes Kind mochte ich die britischen Soldaten nicht. Das ging bis in meine Jugend so weiter. Als ich ein Teenager wurde, hatten die Friedensgespräche begonnen. Die Situation hatte sich etwas beruhigt und das Leben war auf dem Weg zurück zur Normalität.
In Belfast gab es ja großen Widerstand. Könnten Sie etwas von dieser Zeit erzählen?
In der Zeit als ich selbst zu Bewusstsein kam, näherte sich der Krieg seinem Ende und die Grundlage für Friedensgespräche wurde sondiert. Deshalb habe ich nicht viel erlebt. Aber weil meine Familie und mein Umkreis am Widerstand beteiligt waren, erzählten sie mir die ganze Zeit von ihren Erfahrungen. Sie beschrieben ständig die Repression, die durchgeführten Aktionen und die Gräueltaten, die von britischen Soldaten und Sicherheitskräften gegenüber diesen Aktionen begangen wurden. In meiner Jugend waren die Straßen von Belfast mit Bildern von Menschen gefüllt, die im Kampf ihr Leben verloren haben. Ich habe mir diese Porträts die ganze Zeit angesehen und mich für ihre Lebensgeschichten interessiert. Je mehr ich ihre Lebensgeschichten erfuhr, desto mehr war ich mit dem Kampf verbunden. Je mehr ich über ihr Schicksal erfuhr, desto wütender und stärker wurde ich.
Das Wichtigste, was ich Ihnen über diese Zeit sagen will, ist, dass die Menschen in der Gegend, in der ich lebte, zusammenhielten. Der Krieg hatte die Menschen in bittere Armut gestürzt. Vielleicht waren die Menschen in Folge ihres Kampfes gegen den Kolonialismus aufrichtig vereint, es gab eine ernsthafte Kooperation. Menschen, die ihr Zuhause verloren hatten, erlebten eine enorme Solidarität beim Bau neuer Häuser. Viele Leute wohnten bei anderen Familien, weil sie kein Zuhause hatten. Menschen, die im Haus eines anderen wohnten, wurden in jeder Hinsicht von ihren Nachbar:innen unterstützt. In der Gegend, in der ich lebte, waren die Menschen arm, aber niemand spürte diese Armut. Weil es Solidarität gab und alle, die in Not waren, eine helfende Hand bekamen. Damals diskutierten die Menschen über den Friedensprozess. Man plante, was man tun könne, falls es keinen Frieden gebe.
Am 10. April 1998 wurde in Belfast ein Friedensvertrag zwischen dem Vereinigten Königreich und der IRA unterzeichnet. Wie ist der Stand dieses Friedensabkommens und wie hat es auf die Region gewirkt?
Viele Aspekte des Friedensabkommens sind mehrdeutig. Die Vereinbarung wurde nicht veröffentlicht. Der wichtigste gemeinsame Punkt war die Freilassung politischer Gefangener. Tatsächlich ist das Wichtigste am Friedensabkommen, dass es das Blutvergießen seit über 20 Jahren gestoppt hat. Lösungen für viele Probleme wurden gefunden. Es bleiben jedoch viele Probleme bestehen. Einige Gruppen auf beiden Seiten haben ihre Waffen nicht aufgegeben. Im Rahmen dieser Vereinbarung wurde die Demografie vieler Orte verändert. Die Armen wurden ärmer, die Reichen wurden aber noch reicher.
Sie meinen, der Friedensvertrag hat nicht alle Probleme gelöst?
Das Abkommen ist wichtig, aber es reicht nicht aus. Mit diesem Abkommen wurde der Weg für ein Unabhängigkeitsreferendum eröffnet. Aber selbst wenn sich Nord- und Südirland vereinen und die Unabhängigkeit erlangen, werden unter diesen Umständen nicht alle Probleme gelöst sein. Antikapitalismus und revolutionärer Geist waren die Wurzel des Kampfes in Nordirland. Wenn man diesen Geist eingehend analysiert und betrachtet, dann spiegelt er sich nicht im Friedensabkommen wider. Die herrschende kapitalistische Politik löst nicht die Probleme der Menschen und wird das auch nicht können, wenn die Unabhängigkeit erlangt ist.
1981 beschäftigte der Hungerstreik in den H-Blocks die Weltöffentlichkeit. 1984 fand im Gefängnis von Amed ebenfalls ein sehr bedeutsamer Hungerstreik statt. Was können Sie zu dieser Praxis der Hungerstreiks sagen?
Die Geschichte des irischen Widerstands gegen den britischen Kolonialismus ist voll von mutigen Menschen, die im Hungerstreik fielen. Der Hungerstreik 1980/1981, bei dem zehn Menschen fielen, darunter Bobby Sands, ist weltweit bekannt. Aber Hungerstreiks haben eine lange Geschichte in der irischen politischen Kultur. Es heißt, bei den Kelten soll es vor der Haustür der Reichen, die einem gegenüber unfair gewesen waren, Hungerstreiks gegeben haben. Einige Historiker:innen beschrieben diese Streiks als Todesfasten; es heißt, diese Streiks wurden durchgeführt, um Gerechtigkeit mit dem Druck der Schande, dass jemand vor der eigenen Haustür stirbt, durchzusetzen.
1916 fiel im Mountjoy-Gefängnis in Dublin, Thomas Ash, 1920 drei Personen, darunter der Bürgermeister von Cork, Terence McSwiney, im Gefängnis von Brixten. Bei einem Hungerstreik im sogenannten „Freestate“, an dem sich 1923 8.000 IRA-Gefangene beteiligten, fielen weitere zwei Personen. Drei weitere starben in den 40er Jahren in Hungerstreiks.
Nach der Gründung der Provisional IRA in den 1970er Jahren breiteten sich Hungerstreiks wieder aus. Michael Gaughan von der IRA starb 1974 in einem britischen Gefängnis, Frank Stagg 1976 nach einem 62-tägigen Hungerstreik. Was ich also sage, ist sehr bitter, aber Todesfasten ist fest mit der irischen Geschichte verwoben. Bobby Sands erklärte: „In diesem Zeitalter der Demokratie, in diesen Zeiten, in denen die Demokratie so entwickelt ist, ist es natürlich sehr schmerzhaft, dass Menschen ihre Körper Hungern lassen müssen, um auf ein wichtiges Problem aufmerksam zu machen und dass sie größte Leid erdulden und in den Hungerstreik treten müssen.“ Was soll ich mehr zum Thema Hungerstreiks anfügen?
Woher kommt Ihr Interesse am kurdischen Freiheitskampf?
Ich kenne den kurdischen Kampf schon lange. Ich beschäftige mich intensiv mit Schutzsuchenden, die aus politischen Gründen nach Großbritannien kommen. Dabei traf ich einige Kurd:innen, die aus politischen Gründen ihr Land verlassen haben und nach Großbritannien gekommen waren. Nachdem ich sie getroffen hatte, hatte ich die Möglichkeit, die kurdische Frage genauer zu verfolgen und mich mit ihr eingehend zu beschäftigen.
Möchten Sie etwas zu den Ideen Öcalans sagen?
Ich hatte die Gelegenheit, mit ein paar Freund:innen, die in Rojava waren, über Rojava zu diskutieren. Sie beschrieben Öcalan als den Architekten von Rojava. Sie erzählten mir, was sie gesehen hatten, von welchen Dingen sie beeindruckt waren und welche Erfahrungen sie gemacht hatten. Ich hatte Diskussionen über Jineolojî mit den Freundinnen aus dieser Arbeit. Ich hatte so die Möglichkeit, die Jineolojî näher kennenzulernen. Was mich an Öcalans Paradigma am meisten beeindruckt hat, ist seine Herangehensweise an die Natur, seine Betonung der Demokratie, seine Opposition gegen Militarismus und Kolonialismus. Ich kann es auch nicht unterlassen, nochmals die Bedeutung die Öcalan der Bildung beigemessen hat, jenseits des bewaffneten Kampfes, zu betonen. Vor allem daran mangelte es im Kampf in Irland. Die ideologische Ausbildung war hier neben dem bewaffneten Kampf zurückgeblieben.
Das Projekt des demokratischen Konföderalismus organisiert sich nicht von oben nach unten, sondern umgekehrt. Das heißt, es handelt sich um ein Organisationsmodell, in dem sich die Menschen von unten nach oben breit organisieren. Wenn wir auf den Kampf und die Organisation in Irland zurückblicken, kann ich mit Sicherheit sagen, dass es an einer Organisation fehlt, die dem demokratischen Konföderalismus ähnlich ist. Deshalb glaube ich, dass der kurdische Freiheitskampf und Öcalans Paradigma einen wesentlichen Beitrag für uns leisten werden. Wenn wir den kurdischen Kampf mit dem Kampf in Irland vergleichen, haben wir vielleicht eine bessere Chance, unsere Unzulänglichkeiten zu erkennen. Der irische Freiheitskampf wird viel von Herrn Öcalan und der kurdischen Bewegung lernen, und die kurdische Bewegung kann viel aus dem Kampf in Irland lernen. Daher sollten diejenigen, die sich den beiden Kämpfen verschrieben haben, zusammenkommen und ihre Erfahrungen austauschen.
Was möchten Sie über den Kampf der kurdischen Frauen sagen? Wir können sich die Kämpfe der Frauen vereinen?
Wenn wir die Jineolojî gut analysieren und gut in der Praxis anwenden, haben wir einen wichtigen Schritt in Richtung Erfolg getan. Die Jineolojî kann eine wichtige Rolle im Kampf spielen, indem sie den Dialog zwischen Frauen verbessert. Es ist notwendig, das Projekt des internationalen Frauenkonföderalismus zu entwickeln. Obwohl unsere Art zu kämpfen und unsere Argumente für den Kampf unterschiedlich sind, kämpfen wir für die gleichen Ziele. Indem Frauen ihre Kämpfe bündeln, werden wir als Frauen, die in den autonomen Regionen Irland, Schottland, Katalonien und Rojava leben, nicht nur gegen die Kolonialisten Erfolg haben, sondern gegen die gesamte patriarchale Mentalität.