Die bunten Drachen über den Dächern von Kabul fliegen nicht mehr

Ein Kommentar von Heval Botan zur jüngeren Geschichte und aktuellen Situation in Afghanistan.

2001, im Zuge der Al-Qaida-Attentate auf die USA, sah sich Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) befleißigt in kriegstreiberischer Weise kundzutun, dass Deutschland am Hindukusch verteidigt werden müsse, da unsere Freiheit durch internationalen Terrorismus bedroht sei. Teile der Gesellschaft zeigten sich entsetzt und lehnten seinen Vorstoß ab, der weit größere Teil jedoch nickte konform. Dieses war einer massiven Medienpräsenz über die menschenverachtenden neuen Aktionsformen (Flugzeuge und Märtyrertum), Live-Schaltungen und Horrorbildern geschuldet, die über Wochen die Nachrichtenlandschaft bestimmten.

Kurz nach den Anschlägen forderte a bush called George die NATO-Partner der USA auf, mit ihnen in den Krieg gegen Terrorismus zu ziehen. Eather you with or you are against us! Martialische Worte, die bald Krieg für das historisch geschundene Land Afghanistan bedeutete. Die Tür für Verhandlungen und eine politische Lösung war damit zugestoßen. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) erklärte anmaßend, ganz Deutschland stünde solidarisch an der Seite der USA. Ganz Deutschland?

Heute stehen wir vor den Scherben dieser Politik. Die bunten Drachen über den Dächern von Kabul haben aufgehört, in den lauen Sommerabendwinden zu fliegen. Stattdessen ist Sturm aufgezogen, die Fahnen des Islamischen Emirats Afghanistan flattern im Wind. Die Taliban (Schüler Gottes) sind zurück.

Mit ihnen beginnt eine neuerliche Schreckensherrschaft unter der Scharia, von der alle fortschrittlichen Afghan:innen betroffen sein werden. Flucht ist die einzige Alternative, doch wohin?

Schon 1996 bis 2001 wurde deutlich, welch reaktionäre und religiös-faschistische Gesinnung die Taliban vertreten. Von Frauen erkämpfte Rechte wurden mit Füßen getreten, Frauen öffentlich ausgepeitscht oder gesteinigt, Schulen für Mädchen/Frauen und Universitäten verboten und geschlossen, die Vielehe (ein Mann, eine Haupt- und mehrere Nebenfrauen ) wieder erlaubt, Kultur in jeglicher Form unterdrückt, der Schlafmohnanbau als Finanzierungsquelle gefördert. Ein wahrer Verfolgungswahn gegen Oppositionelle und Bevölkerung brach sich Bahn, 40.000 Menschen wurden wegen Zuwiderhandlungen ermordet, darunter viele Frauen, die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, insbesondere im Arbeitsalltag jenseits von Haus und Hof, suchten.

Als al-Qaida 2001 durch die Nato-Krieger besiegt schien, hieß es, das Problem sei gelöst, al-Qaida niedergeschlagen und aufgerieben. Die USA und weitere NATO-Partner blieben als sogenannte Schutzmacht im Land, Deutschland mittenmang dabei als humanitäre Helfer:innen.

Wie humanitär das durch einen deutschen Verantwortlichen gehandhabt wurde, zeigte der Raketenangriff auf einen liegengebliebenen Tanklaster, von dem die arme Landbevölkerung Diesel abzapfte. Mittels Aufklärungsbildern wurde die Bevölkerung als Taliban definiert, an die hundert Menschen verbrannten und starben in der Glut der Explosion, die meisten von ihnen Kinder und Jugendliche. Zur Rechenschaft gezogen wurde keiner der deutschen Befehlsgeber.

Wie lange bekannt, war al-Qaida weder aufgerieben noch inexistent. So zogen sie sich trotz hoher Verluste in die Berge des Hindukusch zurück, in die Tribal Areas am Kyber-Pass, wo keine Regierung je etwas zu sagen hatte, oder in den radikal-islamischen Gürtel an der pakistanischen Grenze, in unmittelbarer Nähe der Stadt Peshawar/Pakistan, in eine ihrer Basen, wo sie viele Verbündete wussten. Sie verhielten sich ruhig, mobilisierten jedoch weltweit neue Kräfte, die sie am Tag X im Kampf gegen die Ungläubigen unterstützen würden. Ihnen war klar, dass die NATO-Truppen eines Tages das Land schon aus Kostengründen würden verlassen müssen. Eine 20-jährige Zeit des Wartens begann, bis die verhassten Besatzer 2021 das Land verließen. Nun war die Zeit einer Reorganisierung und Wiederkehr gekommen, auch weil die alten Strukturen im Untergrund fortbestanden.

Eine auf ewig bestehende Besatzung des Landes, so schreibt die Historie, ist Afghan:innen unerträglich. Diese bittere Erfahrung musste die Rote Armee schon 1979 bis 1989 machen, die sich in einen nicht zu gewinnenden Guerillakrieg ziehen ließ. Damals noch Mudjahedin (Kämpfer der Freiheit und streng anti-kommunistisch orientiert) genannt, zeigten sie keine Berührungsängste mit radikal-islamischen Ideen und hofierten Hardliner wie Mullah Omar oder Gulbuddin Hekmatyar, der heute Taliban-Kader ist, schon immer Warlord war und die Einführung der Scharia (Islamisches Recht) für unerlässlich hält.

Eben aus diesen Mudjahedin, damals schon von radikalen Strömungen unterwandert, entstand die militante Bewegung der al-Qaida. Nach der NATO-Intervention nannten sie sich fortan Taliban.

Afghanistan ist tief gespalten in zwei Bevölkerungsteile: in den, der mit sozialistischen Ideen sympathisiert und diese Gesellschaftsform als wünschenswert erachtet wie in der Zeit von 1979 bis 1986/89 unter der Regierung Babrak Karmal / Mohammed Nadschibullah, oder in streng anti-kommunistische Kreise, die die Taliban und den IS, der sich auch seit der Vertreibung aus Syrien und dem Irak in Afghanistan organisiert hat, sowie viele andere Politiker:innen, u.a Karzai und Ghani, eint.

Auch der Falke vom Panjir, Ahmad Schah Massoud, ein Afghane tadschikischer Herkunft, Guerilla-Stratege und Antikommunist, gleichwohl aber Kämpfer gegen die Taliban und bei der Bevölkerung sehr beliebt, bekam die Entschlossenheit und Brutalität der Taliban zu spüren. So wurde er bei einem seinen wenigen gegebenen Interviews 2001 ermordet. Zwei „Märtyrer" zündeten die unter Turbanen versteckten Sprengsätze und rissen ihn mit in den Tod. Ein großer Verlust für Afghanistan, insbesondere, da er als Intellektueller und gebildeter Mensch galt.

Wie konnte es zur erneuten Machtergreifung der Taliban kommen? Primär muss von einer völligen Fehleinschätzung der USA/CIA und den europäischen NATO-Verbündeten gesprochen werden, die sich weder mit der kulturellen und rebellischen Identität der Afghan:innen auseinander gesetzt haben noch die verarmte Bevölkerung im Blick hatten.

Stattdessen wurde auf diverse falsche Pferde gesetzt. Zu nennen wären die demokratisch gewählten ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai und Ashraf Ghani. Beide Paschtunen, der Bevölkerungsmehrheit im Land. Demokratische Wahlen beinhalten aber nicht nur eine Stimmenabgabe, sondern die Schaffung einer Lebensrealität mit Überlebensperspektive für alle afghanischen Menschen. Obschon auch Minderheiten wie die Hazara, Tadschiken, Belutschen, Usbeken und Turkmenen im Parlament oder der Loja Jirga (Großer Rat) vertreten waren, ging die politische Macht immer von den Paschtunen aus.

Karzai, dessen Bruder einer der größten Heroinhändler Afghanistans war, und Ghani hingen am Tropf der USA und ließen sich mehr als fürstlich über lange Jahre von den USA und Europa finanzieren. Milliarden Dollar flossen in ihre Taschen, Waffen überschwemmten das Land und Korruption griff um sich und wurde zur Tagesordnung unter den allmächtigen Paschtunen. Den erwähnten Minderheiten blieb der Blick in die sprichwörtliche Röhre, die einfachen Menschen erreichte kein einziger Afghani (Währung) von dem neuen Reichtum, der von den Paschtunen zweckentfremdet eingesetzt und in die eigene Taschen umverteilt wurde. Diese Korruption war den Taliban bekannt, doch sie konnten sich keines dieser Gelder als politische Feinde aneignen. Daher begannen sie sich über Opiumanbau und Heroinhandel, Wegezölle und Steuereintreibungen zu finanzieren.

Kurz vor der Machtübernahme der Taliban hat Präsident Ashraf Ghani in einer Nacht- und Nebelaktion das Land verlassen, ohne in höchster Not zu vergessen, verschiedene greifbare Reichtümer mitzunehmen. Seine im Ausland gebunkerten Dollars bleiben unangetastet. Hamid Karzai lebt schon lange außerhalb Afghanistans, vermutlich in den USA, und lässt es sich gut gehen.

Ein weiterer strategischer Fehler der USA und CIA sowie Europa ist die Finanzierung Pakistans zur Terrorabwehr von Al Qaida, IS und Taliban. Pakistan sollte als regionaler Stadthalter und geostrategischer Stabilisator im Mittleren Osten fungieren. Da der ISI (pakistanischer Geheimdienst) mit eben diesen Gruppen größtenteils auch aus Glaubensgründen sympathisierte, flossen hunderte Millionen Dollar zurück an die radikal-religiösen Aufständischen, zum Beispiel zur Finanzierung der Madrassas (Religionsschulen), die in Pakistan und an der afghanischen-pakistanischen Grenze zu finden sind. Sie sind Rekrutierungsschulen für weitere Taliban-Kämpfer. Auch das Haqqani-Netzwerk (Islamisches Terror-Netzwerk) profitierte im kontraproduktiven Sinne von den Zahlungen der NATO-Verbündeten.

Angesichts dieser komplizierten Verpflechtungen wundert es nicht, dass Bin Laden lange Jahre unbehelligt und fast ohne Sicherheitsmaßnahmen im pakistanischen Abbottabad, einer Garnisionsstadt ,in einem eigenen Haus leben konnte. Nur durch neuerliche Korruption und Zahlung hoher Geldsummen an einen seiner Vertrauten, den die CIA lokalisierte, konnte der Aufenthaltsort durch Verrat ermittelt werden. Der Rest ist bekannt und Geschichte.

Last but not least muss der Fokus auch auf die Türkei gerichtet werden. Erdogan will in Zukunft die Rolle der NATO-Staaten in Afghanistan übernehmen. Er gibt sich nicht mit der aktuellen Besatzung der kurdischen Landesteile in Syrien, Irak und der Türkei selbst zufrieden, in denen seit einem halben Jahr ein schrecklicher Krieg mit dem Waffenpotential der zweitgrößten Nato-Armee und Einsatz chemischer Kampfstoffe tobt, sondern will eine zweite Front gegen die Taliban in Afghanistan eröffnen.

Nach der Vertreibung des IS aus dem kurdischen Nordirak und Syrien (Efrîn, Rojava) durch die kurdische Guerilla, die u.a. den Genozid an den Ezid:innen in Şengal unter hohen eigenen Verlusten verhinderte, sowie dem Abzug der US-Truppen aus beiden Ländern sah Ankara die Gelegenheit gekommen, dieses Machtvakuum zu füllen.

Im historischen Rückgriff muss allerdings Erwähnung finden, dass die Türkei Schleusungsland für militante IS-Kämpfer war und ist, Büros zur Weiterleitung und Passangelegenheiten dieser Militanten vorhanden sind und verwundete IS-Kämpfer in türkischen Krankenhäusern gepflegt und operiert wurden. Nach Niederschlagung des IS in den kurdischen Regionen sind tausende IS-Militante nach Afghanistan weiter gezogen. Wer will also einer faschistischen Regierung aus AKP/MHP trauen? Denn: wer einmal lügt, dem glaubt Mensch nicht.

Quo vadis Afghanistan? Es steht zur befürchten, dass es schlimme Massaker an der Zivilbevölkerung geben wird. Rette sich wer kann. Aber wohin? Der Grenzverlauf zum Iran ist von den Taliban abgeriegelt worden, Pakistan ist eher Zufluchtsort für Taliban statt Andersdenkender. Bliebe noch die Grenze zu Tadschikistan, in der Nähe von Bamian und des Fergana-Tal, wo die Taliban einst die Buddhastatuen sprengten. Dort leben afghanische Hazara und Tadschiken, aber dahin zu gelangen ist durch mangelhafte Infrastruktur fast unmöglich.

Eine inländische Fluchtalternative gibt es nicht. Es kann sich nur um Stunden handeln, bis auch der Flughafen in Kabul unter vollständiger Kontrolle der Taliban stehen wird. Eine humanitäre Tragödie zeichnet sich immer mehr ab. Außenpolitisch gesehen wird die gesamte Welt mit billigem Heroin überschwemmt werden. Ein Islamisches Emirat Afghanistan darf keine Anerkennung im Völkerbund finden. Solidarität mit und weltweites Einreise- und Bleiberecht für afghanische Geflüchtete, die es noch schaffen, das Land zu verlassen!


* Der Autor dieses Standpunkts hat ein halbes Jahr während der Regierung Mohmmed Dawud in Herat und Mazar-i-Sharif gearbeitet (Landbewässerung) und gelebt und hat seitdem Afghanistan, bedingt durch positive Erfahrungen, nie aus den Augen verloren. Er wird nie die bunten Drachen über Kabul, Herat und Mazar-i-Sharif und die Freude der Kinder vergessen.