In den letzten Wochen und Monaten mehren sich die Anzeichen einer möglicherweise bevorstehenden neuen türkischen Invasion in Nord- und Ostsyrien. Erst vor wenigen Tagen ließ sich die türkische Regierung vom Parlament einen Blankoscheck für grenzüberschreitende Operationen innerhalb der nächsten zwei Jahre ausstellen. In den besetzten Gebieten in Nordsyrien werden türkische Truppe zusammengezogen. Im Gespräch mit der nordsyrischen Nachrichtenagentur ANHA äußerte sich der YPG-Sprecher Nurî Mehmûd zu diesen Entwicklung. Er betont, die Verteidigungskräfte hätten aus der Besetzung von Efrîn, Girê Spî und Serêkaniyê ihre Lehren gezogen und seien nun vorbereitet, mit „neuen Strategien und Taktiken gegen einen möglichen Angriff vorzugehen“.
„Machtdemonstration Russlands“
Zu den russischen Manövern in der Region sagt Mehmûd: „Russland versucht mit seinen Manövern das Bild zu schaffen, es würde Syrien gegen Erdoğans Drohungen verteidigen. Aber das ist nicht die Lösung. Ein Staat wie Russland sollte eine wichtigere Rolle spielen, nämlich die Einheit der Bevölkerung Syriens unterstützen und den Weg für eine demokratische Lösung ebnen.“ Mehmûd bezeichnete die Unfähigkeit von Großmächten wie den USA und Russland, in Syrien bis heute keine politische und demokratische Lösung geschaffen zu haben, als eine „Schande“. Auch die Manöver Russlands könnten weder einen Krieg verhindern noch eine Lösung befördern. Der YPG-Sprecher fährt fort: „Ohne ernsthafte Diskussionen über die Umsetzung des Modells der autonomen Verwaltung und anderer für Syrien vorgeschlagener Systemalternativen und ohne Beteiligung aller Teile der Bevölkerung daran kann keine Lösung im Sinne der Völker Syriens erzielt werden. Daher stellen diese Manöver auch keine Lösung dar.“
Zu der Frage, ob Russland Kobanê der Türkei überlassen und dafür Idlib erhalten werde, sagt Mehmûd: „Es mag einen Deal geben, aber wir haben offiziell keine Informationen darüber erhalten. Das jüngste Beispiel für einen solchen Deal ist Efrîn. Wir haben immer gesagt, Russland muss als Garantiemacht seine Rolle bei einer politischen und demokratischen Lösung spielen.“
„Wir haben große Kriegserfahrung“
Nurî Mehmûd unterstreicht, dass die YPG und YPJ sowie die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) über große Kriegserfahrung verfügen und den Kampf zur Verteidigung der „Werte der Revolution“ auf der Grundlage der legitimen Selbstverteidigung führen. „Wir wurden gegründet, um das Ziel, die Würde und die Werte der Revolution zu schützen. In diesem Prozess haben wir große Erfahrungen gesammelt. Insbesondere haben wir Erfahrungen im Kampf gegen die Terrorgruppen unter der Ägide Erdoğans wie dem IS und al-Qaida gesammelt“, erklärt er.
„Neue Taktiken und Strategie“
Mehmûd ordnet die Erfahrungen mit den vorherigen Invasionen ein und sagt: „Auf Efrîn, Girê Spî und Serêkaniyê gab es [bei der türkischen Invasion] heftige Luftangriffe. Mit anderen Worten, es gab kein Gleichgewicht zwischen unseren Streitkräften und der türkischen Armee in Bezug auf die eingesetzte Technik. Diese Situation wurde von unseren Streitkräften ausführlich diskutiert und es wurden Taktiken und Strategien entwickelt, auf welche Weise diesbezüglich Maßnahmen ergriffen werden können. Infolgedessen sind unsere Kräfte bereit, alles zu tun, um die Ziele und Werte der Revolution und die Würde der Gesellschaft auf der Grundlage legitimer Verteidigung zu schützen.“
„Alle wissen, wie wir Widerstand geleistet haben“
Mehmûd fährt fort: „Unser Ziel ist eine demokratische Lösung innerhalb Syriens, und in Übereinstimmung mit den Prinzipien der legitimen Verteidigung war Krieg in diesem Sinne nie unsere Priorität. Aber da wir ständig Angriffen ausgesetzt waren, mussten wir kämpfen, um uns zu verteidigen. Alle wissen, wie wir Widerstand leisten, wenn wir müssen; der Sieg gehört uns und unserem Volk.“
„Der gerechte Kampf der Völker“
Der YPG-Sprecher sieht im Erfolg von Rojava seit der Revolution einen Beleg dafür, dass die Menschen der Region mit ihrem Modell im Recht sind, und sagt: „Während seines Treffens mit Erdoğan betonte Herr Biden Menschenrechte und Demokratie. Seit Beginn der Revolution haben die Selbstverwaltung und unsere Kräfte in diesem Sinne eine Vorreiterrolle gespielt. Als alle vom ‚Arabischen Frühling‘ sprachen, sprachen wir vom ‚Frühling der Völker‘. Der Kampf der Völker, der Frauen, der Jugend, der verschiedenen Weltanschauungen in Nord- und Ostsyrien, kurz gesagt aller Komponenten, die Freiheit brauchten, hat bewiesen, dass die Definition als ‚Frühling der Völker‘, richtig war.“
„Wir werde das wahre Gesicht der Türkei zeigen“
Mehmûd beschreibt den Kampf von Rojava und Nordostsyrien auch als einen Kampf um die Wahrheit. Er führt aus: „Im Jahr 2012 haben wir mit unserem Widerstand in Serêkaniyê der Welt gezeigt, dass al-Qaida und al-Nusra tatsächlich unter den Gruppen organisiert waren, die sich als ‚Freie Syrische Armee‘ bezeichneten. Dann haben wir in Kobanê den bis dato unbesiegten IS geschlagen. Mit unserem Kampf enthüllten wir das wahre Gesicht der Gegenseite. Heute reißen wir dem Faschismus des türkischen Präsidenten und seiner AKP/MHP-Regierung die Maske vom Gesicht.“
„Die Wahrheit verteidigen“
Mehmûd weiter: „Wir haben bereits von Anfang an erkannt, dass das eigentliche Problem Demokratie und Menschenrechte sind. Die Welt hinkt uns einen Schritt in ihrer Herangehensweise an das Problem hinterher. Die Wahrheiten, die wir in der Revolution vor der Weltöffentlichkeit ans Licht brachten, waren immer das Produkt des Gewissens und der Moral unserer Gesellschaft. Sie haben bewiesen, dass es keine andere Lösung gibt. Unsere Kräfte haben Widerstand geleistet und werden weiterhin Widerstand leisten, um diese Wahrheit zu schützen.“
„Das Volk sollte sich auf ein Leben in Würde und Freiheit vorbereiten“
Der YPG-Sprecher schließt mit den Worten: „Die Menschen in Rojava und in Nord- und Ostsyrien haben große Opfer gebracht. Während des revolutionären Prozesses zeigten sie großen Mut, um sowohl die Ehre als auch die Ziele der Revolution zu schützen, und so errangen sie große Siege gegen den Terror. Ein Volk, das den revolutionären Volkskrieg auf diese Weise geführt hat, wird nicht aufhören, bis es die Freiheit erreicht und den Schutz seiner Werte garantiert hat. Unser Volk wird das Notwendige gegen die Bedrohung durch den türkischen Präsidenten, der hier sein Sultanat errichten will, unternehmen. Unsere Kräfte, die YPG/YPJ und QSD, wurden durch den Willen des Volkes geschaffen, und es ist dieser Wille, der uns trägt. Unser Volk sollte sich auf der Grundlage dieser Realität organisieren und ein freies und würdevolles Leben aufbauen.“