Die Türkei droht mit neuen Angriffen gegen Nord- und Ostsyrien. Wie sind diese Drohungen vor dem Hintergrund Ihres erfolgreichen Kampfes gegen den IS und den Gesprächen über eine Lösung für die Beendigung des Syrien-Konflikts zu interpretieren?
Es ist allgemein bekannt, dass wir die Territorialherrschaft des IS im Verlauf der Revolution zerschlagen haben. In letzter Zeit gehen wir in Zusammenarbeit mit der internationalen Anti-IS-Koalition erfolgreich gegen Zellenstrukturen der Terrormiliz vor. Dabei ist insbesondere der Einsatz in Camp Hol zu erwähnen. Darüber hinaus behalten wir die inhaftierten IS-Dschihadisten unter Kontrolle. Wir haben der Welt gezeigt, wie der Terrorismus bekämpft und gestoppt werden kann.
Gleichzeitig arbeiten wir hart daran, die Stabilität Syriens zu gewährleisten. Die Autonomieverwaltung ist bestrebt, eine Lösung für ganz Syrien zu finden; dazu finden regelmäßig Verhandlungen mit Russland statt. Noch konnten die gewünschten Ergebnisse nicht erreicht werden. Und genau mitten in einer Phase wie dieser erheben der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Partei unbegründete Anschuldigungen gegen uns, um eine Legitimation für neue Angriffe zu schaffen. Sie wollen verhindern, dass die gegenwärtigen Errungenschaften oder Bemühungen Früchte tragen.
Auf diese Weise wiederholt sich die Vergangenheit. Es lässt sich nicht leugnen, dass die Angriffe auf Efrîn, Serêkaniyê oder Girê Spî unter anderem dem Wiederaufleben beziehungsweise der Reorganisierung des IS in Hajin, Baghuz und Deir ez-Zor dienten. Zweifelsohne haben diese Bemühungen ihrem Zweck entsprochen, die Existenzdauer des IS ist verlängert worden.
Die türkische Seite behauptet, es würden Angriffe auf Ihr Staatsgebiet stattfinden …
Erdoğan und sein Verteidigungsminister Hulusi Akar geben zwar an, dass türkisches Staatsgebiet von unseren Regionen aus unter Feuer genommen worden sei. Dies ist aber schlichtweg erfunden. Nicht wir greifen die Türkei an, das Gegenteil ist der Fall. Allein in den letzten sechs Monaten gingen mindestens 306 Artillerie-, Mörser-, Haubitzen- und Luftangriffe gegen Ain Issa, Girê Spî, Til Temir, Zirgan und andere Regionen auf das Konto des türkischen Staates. Gemeinsam mit ihren in der Besatzungszone angesiedelten Söldnergruppierungen, dazu zählen der IS, al-Qaida, die Nusra-Front und die Muslimbruderschaft, führten die türkischen Invasionstruppen im gleichen Zeitraum sechzehn Bodenoffensiven gegen unsere Gebiete durch, die allesamt vereitelt wurden. Acht Zivilpersonen – vier Minderjährige, drei Frauen und ein Mann – haben bei diesen Angriffen jedoch Verletzungen erlitten. Hunderte Familien sind vertrieben worden. Im September wurden 194 Attacken gezählt; fünf Zivilistinnen und Zivilisten starben, sechs weitere wurden verletzt. Diese Ereignisse stehen in absolutem Widerspruch zu den Behauptungen des türkischen Präsidenten und seines Ministers. In der Zwischenzeit dauern die Angriffe auf unsere Regionen unvermindert an.
Am 17. Oktober 2019 wurde ein Waffenstillstandsabkommen mit den USA geschlossen, am 22. Oktober 2019 gab es mit Russland eine Vereinbarung. Wie stehen die Garantiemächte zu den Verstößen der Türkei gegen den Waffenstillstand?
Im Gegensatz zum türkischen Staat und seinen Hilfstruppen handeln wir im Einklang mit den Bedingungen dieser Vereinbarungen. Die Verstöße gegen die Waffenstillstandsabkommen geschehen allerdings vor den Augen Russlands und der Vereinigten Staaten. Tayyip Erdoğan und die AKP/MHP-Regierung gelten als Förderer von Chauvinismus und Dschihad. Sie halten sich weder an die eigenen Gesetze noch an internationales Recht oder die Rechtsgrundlagen der NATO und der internationalen Koalition. Sie setzen sich im Grunde gegen jegliches geltende Recht hinweg.
Die Türkei ringt mit schweren innenpolitischen Problemen und erlebt derzeit eine schwere Wirtschaftskrise. Dennoch fließt das Geld nach wie vor in die Finanzierung von terroristischen Gruppierungen und grenzüberschreitende Operationen. Was bezweckt die türkische Regierung damit? Und welche Rolle fällt der türkischen Gesellschaft zu, diese Verhältnisse zu ändern?
Erdoğan ist bestrebt, das osmanische Kalifat wiederherzustellen. Wir haben die internationale Öffentlichkeit in hinreichendem Maß über die Beziehungen der derzeitigen türkischen Regierung zu Gruppen wie dem IS oder der Muslimbruderschaft aufgeklärt. Diese Organisationen operieren in besetzten Regionen wie Efrîn, Idlib, Azaz und Bab. Abu Bakr al-Baghdadi, um nur ein Beispiel zu nennen, ist in der Besatzungszone aufgespürt worden. Der türkische Präsident hält sich für einen neoosmanischen Sultan, den neuen Kalifen, der sich mit dem territorialen Anspruch des IS oder der Muslimbruderschaft auf Gebiete in Syrien und im Irak nicht zufriedengibt. Er erhebt noch größere Gebietsansprüche. Das ist sein Idealziel, nach dem er seine Agenda ausrichtet.
In der aktuellen Phase ist Erdoğans Lebenstraum zerplatzt, seine Pläne für den Nahen und Mittleren Osten sind misslungen. Sein Land ist von verschiedenen Krisen gebeutelt. Die Wirtschaftslage ist katastrophal, die Lira befindet sich im Sinkflug. Sowohl innenpolitisch als auch in Sachen Diplomatie und Außenpolitik hat die Regierung auf ganzer Linie versagt. Es herrschen Zeiten der Unsicherheit in der Türkei. Die Gesellschaft wird diese Situation nicht dulden. Sie wird eine neue Regierung fordern.
Der türkische Präsident und die chauvinistisch-dschihadistische Regierung aus AKP und MHP begegnen den innenpolitischen Krisen in der Türkei jedoch mit Krieg. Sie schüren Konflikte im Irak, in Armenien, Libyen, im Mittelmeer oder mit Griechenland und wollen die Invasion im besetzten Zypern ausweiten. Die Kriegsdrohungen gegen Syrien sind allgegenwärtig. Zusammengefasst lässt sich daraus schließen, dass dieses Regime nur noch eine Karte in der Hand hält. Und das ist die Kriegskarte.
Wessen Interessen würde ein neuer Krieg dienen? Wer wird davon betroffen sein und in welchem Ausmaß?
Dieser Krieg wird weder im Interesse der einen noch der anderen Seite sein. Er wird nicht im Sinne der Völker der Türkei, der NATO, der internationalen Koalition oder Russlands sein. Solche Kriegsvorbereitungen finden im Rahmen der osmanischen Bestrebungen und Erdoğans Vision einer Herrschaft im Stil von vor tausend Jahren statt.
Mit diesem Krieg hofft er, sein Leben noch ein wenig zu verlängern. Zweifellos sollten unser Volk und die ganze Welt verstehen, dass dieser Konflikt nicht im Dienste der Menschheit steht. Dies ist ein Terrorkrieg. Die ganze Welt spricht bereits über die Unterstützung des Terrorismus durch den türkischen Präsidenten Erdoğan und seine Haltung, die die Türkei zu einem sicheren Hafen für die tödlichsten Terroristen der Welt gemacht hat.
Wenn ein solcher Angriffskrieg heute stattfinden sollte, wird er nicht nur den Kurdinnen und Kurden und den Menschen in Nordostsyrien schaden, sondern auch allen terroristischen Gruppen neue Hoffnung geben. In den von der Türkei besetzten Gebieten befinden sich nahezu alle klandestinen IS-Zellen für den moralischen, logistischen und strategischen Bedarf des IS und der Söldnergruppen in der Region.
IS-Dschihadisten und ihre Familien, die wir in Auffanglagern untergebracht haben, wollen zu Erdoğan. In der Türkei sehen sie die Möglichkeit, einen terroristischen Staat wieder zu errichten. Das ist die aktuelle Situation. Wenn dieser Krieg geführt wird, können wir damit rechnen, dass der IS-Terrorismus unter einem anderen Namen wieder auftaucht.
Welche Verteidigungsstrategie werden Sie angesichts möglicher Angriffe anwenden?
Wir werden wie immer auf Grundlage der legitimen Selbstverteidigung agieren. Dieser Krieg wird nicht so sein wie die Kriege in Efrîn und Serêkaniyê. Diesmal werden unsere Kräfte mit Beharrlichkeit gegen alle Arten von Angriffen vorgehen. Wir haben noch nie ein Land angegriffen, darüber ist sich die Welt bewusst. Aber bei jedem Angriff auf unsere Autorität und unsere Völker, bei jedem Angriff, der darauf abzielt, das Ideal unserer Revolution und die Träume unseres Volkes zu zerstören, werden wir dieses Volk und dieses Land auf der Grundlage seiner legitimen Rechte schützen.
Das Projekt der demokratischen Autonomie und des Nordostens Syriens ist für Syrien als Ganzes von entscheidender Bedeutung. Es gibt dem syrischen Volk Hoffnung. Der türkische Präsident und seine Partei sehen darin ein Hindernis für ihre Herrschaft, das es anzugreifen gilt. Ihr Ziel ist es, dieses Modell zu zerstören und eine ähnliche Terrororganisation wie den IS unter einem anderen Namen aufzubauen.