Entschlossen zum Widerstand
Nach dem Sturz des syrischen Machthabers Baschar al-Assads ist die Zukunft Syriens weiter ungewiss. Während im Westen und Süden des Landes viele Menschen auf einen Neuanfang hoffen, ist der Nordosten, wo besonders viele Kurd:innen und andere Minderheiten leben, von Unsicherheit und Gewalt geprägt. Die Türkei ist in der Offensive und nutzt die Gunst der Stunde, im Grenzstreifen einen neuen Status quo zu etablieren. Im Windschatten des Sturms der Islamistenmiliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) auf Damaskus hat Ankara einen neuerlichen Feldzug gen Rojava gestartet.
Nach der Besetzung der westlich des Euphrat gelegenen Städte Tel Rifat und Minbic will die von der türkischen Regierung als Proxy-Bodentruppe für die Invasion Rojavas aufgestellte Dschihadistentruppe „Syrische Nationalarmee“ (SNA) weiter Richtung Osten bis zur türkisch-syrischen Grenzstadt Kobanê vorrücken. Dort entlud sich die Wut der Bevölkerung auch am Montag wieder auf der Straße. Tausende Menschen beteiligten sich an einer Demonstration, um Entschlossenheit zum Widerstand gegen die Ausweitung der Dschihadisten-Invasion in Nord- und Ostsyrien zu bekunden und sich solidarisch mit den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) zu zeigen, die unter hoher Opferbereitschaft das Projekt Rojava verteidigen.
Der Aufzug startete am symbolträchtigen Platz der freien Frau. Viele Teilnehmende trugen Fahnen des Kantons Euphrat, dessen Hauptstadt Kobanê ist, Flaggen der YPG und YPJ sowie Transparente mit Bildern von Menschen, die bei Angriffen des türkischen Staates und im Kampf gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) ums Leben gekommen sind. Auch das Konterfei von Abdullah Öcalan, nationales Symbol in Kurdistan und Ideengeber der Rojava-Revolution, blickte aus dem Fahnenmeer auf die Menge. „Es lebe der Widerstand der QSD“ und „Nieder mit dem Faschismus“ wurde immer wieder lautstark skandiert.
Die Demonstration führte durch verschiedene Wohnviertel und endete mit einer Kundgebung auf dem Şehîd-Egîd-Platz. Als Redner trat der Politiker Enwer Muslim auf, der Ko-Vorsitzender des Kantonalverbands der Bewegung für eine demokratische Gesellschaft (TEV-DEM) ist. Muslim sagte: „Der Sturz von Assad bedeutet das Ende einer Ära, aber nicht den Beginn des Friedens. Stattdessen markiert er eine neue Phase der Unsicherheit. Dies ist auf die Bestrebungen der Türkei zurückzuführen, die das Land und im Besonderen die Autonomieregion Nord- und Ostsyrien zugunsten ihrer [neo-osmanischen] Großmachtphantasien in Dunkelheit hüllen will.“
Stets allgegenwärtig: Die Gefallenen von Rojava
Muslim bezeichnete die Gebiete der Selbstverwaltung als „integralen Bestandteil Syriens und die Bewohner:innen als „echte Teile Syriens“. „Als Bevölkerung der Autonomieregion wollen wir in einem demokratischen Syrien leben. Wir begrüßen die Erklärungen der neuen Regierung in Damaskus, die die Kurd:innen als einen wesentlichen Bestandteil Syriens anerkennt, positiv. Diese Erklärungen müssen jedoch vor Ort in die Praxis umgesetzt werden“, sagte Muslim mit Blick auf die andauernden Angriffe der Türkei. Es brauche auch außerhalb Nord- und Ostsyriens Widerstand gegen die türkische Besatzung. „Auch die US-geführte internationale Anti-IS-Koalition muss ihren Teil dazu beitragen“, forderte der Politiker.