Offener Brief an die Bundesregierung
Städtepartnerschaftsvereine in Deutschland warnen vor einem bevorstehenden Angriff der Türkei auf Kobanê und fordern die Bundesregierung zum Handeln auf. Elke Dangeleit vom Vorstand der Städtepartnerschaft Friedrichshain-Kreuzberg – Dêrik e.V. erklärte in einer Mitteilung:
„Am Sonntag berichtete Matthias Ebert in der Tagesschau live aus Qamishli/Nordostsyrien über die Lage und dem bevorstehenden Angriff der Türkei mit ihren islamistischen Milizen, der sog. Nationalen Syrischen Armee (SNA), auf die Stadt Kobanê im Gebiet der Selbstverwaltung von Nord- und Nordostsyrien (DAANES). Erneut nutzt die türkische Regierung die unklare politische Lage in Syrien aus, um ihre eigene Agenda zu verfolgen: die Besetzung weiterer Gebiete der Selbstverwaltung Nordostsyriens. Die von der Türkei ausgebildeten und finanzierten Söldner der SNA begehen derzeit schwere Menschenrechtsverletzungen in den von ihnen neu besetzten Regionen Shehba und Minbic, in denen zehntausende Geflüchtete aus der 2018 von der Türkei besetzten Region Afrin im Nordwesten seitdem in Geflüchtetencamps lebten. Diese Menschen sind nun wieder auf der Flucht.
Zehntausende Geflüchtete im Gebiet der Selbstverwaltung
Unsere Partnerstadt Dêrik hat in den letzten Tagen mehrere hundert geflüchtete Familien aufgenommen. Alle Regionen im Gebiet der Selbstverwaltung senden Hilferufe, weil sie die vielen Geflüchteten nicht unterbringen und versorgen können. In den letzten Monaten hatte die Türkei in dem Gebiet vor allem die zivile Infrastruktur wie Strom- und Gaskraftwerke, Getreidesilos, Fabriken, Bäckereien, Molkereien, Zementwerke und anderes produzierendes Gewerbe sowie Krankenhäuser bombardiert und zerstört. Deshalb gibt es vor Ort keine Möglichkeit, schnell zusätzliche Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs für Geflüchtete bereitzustellen. Die medizinische Versorgung, die schon vor den Ereignissen der letzten Tage katastrophal war, steht vor dem Kollaps. Die Bevölkerung hilft bei der Unterbringung und Versorgung der Geflüchteten wo sie kann.
Wir machen uns große Sorgen um die Zukunft unserer Partnerstädte
Ein Angriff auf die symbolträchtige Stadt Kobanê wird auch direkte Folgen auf unsere Partnerstadt Dêrik haben, deren zivile Infrastruktur selbst immer wieder von türkischen Drohnen angegriffen wird. Seit 2019 besteht die Städtepartnerschaft zwischen dem Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg und Dêrik (Al Malikyia) in Nordostsyrien. Wir unterstützen die Zivilgesellschaft mit konkreten Projekten wie z.B. einer Mobilen Klinik für Frauen und Kinder, einem Spielplatz, Begrünungsprojekten oder einem solarbetriebenen Trinkwasserbrunnen für ein Stadtviertel von Dêrik.
In einem Offenen Brief an Bundeskanzler Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock, den wir mit den anderen Städtepartnerschaften und -freundschaften mit Städten im Gebiet der Selbstverwaltung von Nord- und Nordostsyrien (DAANES) verfasst haben, appellieren wir an die Bundesregierung, nicht wie in der Vergangenheit das Gebiet der Selbstverwaltung von humanitärer Hilfe auszusparen, nur um die türkische Regierung nicht zu verärgern. Wir erwarten nicht nur klare Worte – das interessiert den türkischen Präsidenten nicht. Es muss gehandelt werden! Waffenlieferungen, mit denen natürlich auch die islamistische SNA von der Türkei ausgestattet wird, müssen sofort gestoppt werden. Es muss mit wirtschaftlichen Sanktionen gedroht werden, wenn die Türkei ihre Proxy-Truppe SNA nicht stoppt. Die Türkei ist unseren Beobachtungen nach der Hauptverursacher für die Geflüchteten aus Nordsyrien in den letzten Jahren – weil sie den Menschen die Lebensgrundlage, Wasser, Strom und Lebensmittel entzieht. Es muss sofort eine Flugverbotszone geben, um die Luftangriffe der Türkei zu stoppen.
Sie finden viele Informationen auf unserer Homepage www.staepa-derik.org, Interviewanfragen bitte an [email protected]. Wir können gerne auch Kontakte zu den Ko-Bürgermeister:innen von Dêrik oder unseren Kooperationspartnern vor Ort vermitteln.“
Offener Brief an Scholz und Baerbock
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz,
sehr geehrte Frau Außenministerin Baerbock,
der Sturz des Diktators Assad in Syrien ist ein Schritt, der grundsätzlich zu begrüßen ist. Allerdings stellen die aktuellen Angriffe der türkeitreuen islamistischen Milizen der SNA auf die demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Nordostsyrien (DAANES) eine erhebliche Bedrohung dar. Die Türkei nutzt die Situation, um die Selbstverwaltung und Zivilisten anzugreifen. Es gibt bereits zahlreiche Tote, darunter auch Kinder. Es besteht darüber hinaus die Gefahr der Befreiung der IS-Kämpfer aus den Gefängnissen.
Die Kurd*innen haben im Kampf gegen den IS einen unermesslichen Blutzoll gezahlt und durch ihren Einsatz die Welt ein Stück sicherer gemacht. Es wäre ein historisches Versagen und eine humanitäre Katastrophe, diese Menschen jetzt den islamistischen Milizen und den geopolitischen Interessen der Türkei zu überlassen. Deutschland darf dabei nicht tatenlos zusehen.
Die Unterstützung der Türkei für islamistische Milizen stellt nämlich nicht nur eine regionale, sondern auch eine globale Bedrohung dar. Die internationale Gemeinschaft muss verhindern, dass sich diese Gewaltpolitik weiter ausbreitet und die Errungenschaften im Kampf gegen den bewaffneten Islamismus durch die Türkei gefährdet werden.
Die Bundesregierung muss handeln:
- Eintreten für einen umfassenden Waffenstillstand unter Schirmherrschaft der UN, wie ihn auch die Selbstverwaltung fordert
- Anerkennung der Selbstverwaltung von Nord- und Nordostsyrien (DAANES), um den Schutz von Minderheiten zu gewährleisten.
- Eintreten für den Schutz der erkämpften Befreiung und Gleichberechtigung der Frauen
- Die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) im Kampf gegen den IS unterstützen, um ein Wiedererstarken der Terrororganisation zu verhindern
- Druck auf die Türkei ausüben, um die Angriffe auf die kurdischen Gebiete zu stoppen
Mit freundlichen Grüßen
- Städtefreundschaft Frankfurt - Kobanê e.V.
- Städtepartnerschaft Friedrichshain-Kreuzberg - Dêrik e.V.
- Städtepartnerschaft Köln - Qamishlo
- Städtepartnerschaft Oldenburg - Rakka e.V.
- Responders e.V.
- Welle gGmbH
- Kinderhilfe Mesopotamien e.V.
- Initiative Kölner helfen