Wie die Türkei in Idlib versagte

Die Türkei hatte Russland ursprünglich versprochen, die radikalislamistischen Kräfte in Idlib zurückzudrängen. Der Plan ist nach hinten losgegangen. Und ganz nebenbei haben Ankara und Moskau nun auch ein Ukraine-Problem.

Die Dschihadistenallianz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) hat mittlerweile so gut wie die gesamte Kontrolle über die Region Idlib übernommen. Binnen kürzester Zeit hat dieses Bündnis, das von dem syrischen Al-Qaida-Ableger al-Nusra angeführt wird, die von der Türkei unterstützen Islamisten der Nationalen Befreiungsfront (NLF) aus weiten Teilen Idlibs vertrieben.

Dabei hatte der türkische Staat zur Sicherheit der Region und gegen mögliche Angriffe von HTS ganze zwölf Kontrollpunkte um Idlib herum errichtet. Gegen den Vormarsch der Dschihadisten nützten diese jedenfalls nicht. Die Türkei hüllte sich in Schweigen und beobachtete die Übernahme Idlibs durch HTS tatenlos.

Vormachtstellung des Al-Qaida-Ablegers in Idlib

Bis auf kleinere Gebiete im Süden von Idlib übt nun Hayat Tahrir al-Sham fast die vollständige Kontrolle über Idlib aus. Selbst im syrischen Bürgerkrieg nicht bedeutungslose Gruppierungen wie die Islamisten von Ahrar al-Sham haben sich der Vormacht der HTS gebeugt. Im Westen von Aleppo und im Süden von Idlib liefert sich der Al-Qaida-Ableger mittlerweile an manchen Orten Gefechte mit dem syrischen Regime. Auch russische Kampfflugzeuge mischen sich in das Geschehen ein. Am 4. Januar bombardierten sie mehrere Stellungen der HTS.

Das bemerkenswerte Schweigen der Türkei

Hatte sich die Regierung in Ankara auf internationaler Bühne zur Verteidigerin der Bevölkerung von Idlib aufgespielt, zieht sie es plötzlich vor zu schweigen. Doch nicht nur die türkische Regierung schweigt zum Vormarsch der HTS, sondern Russland, der Iran und das syrische Regime ebenso sehr wie Saudi-Arabien, die USA und der Westen. 

Doch nachdem eine türkische Abordnung in Moskau am 29. Dezember 2018 durch den russischen Außenminister Lawrow auf die Verpflichtungen der Türkei gemäß der Sotschi-Vereinbarung aufmerksam gemacht wurde, konnte die AKP ihr tatenloses Verhalten nicht länger aufrechterhalten. Die erste Regung Ankaras war die Mobilisierung des Militärs in der türkischen Provinz Hatay, das in unmittelbarer Nähe zu Idlib liegt.

Am 13. Januar kamen der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar und der Geheimdienstchef Hakan Fidan dann in Hatay mit türkischen Militärverantwortlichen zusammen. Nach der Zusammenkunft erklärte Akar, dass man sich weiterhin um einen Waffenstillstand in Idlib bemühe und hierfür im engen Austausch mit Moskau stehe.

Ein ähnlich versöhnliches Statement folgte von der Sprecherin des russischen Außenministeriums, Mariya Zaharova. Sie zollte der Türkei Anerkennung für deren Bemühungen, das Idlib-Abkommen zwischen Russland und der Türkei vom 17. September 2018 aufrechtzuerhalten.

Plötzliche Al-Qaida-Operation in der Türkei

Noch am selben Tag kam es in den türkischen Metropolen Adana, Ankara und Istanbul zu Polizeioperationen gegen die Strukturen von Hayat Tahrir al-Sham. Wie die türkische staatliche Nachrichtenagentur AA berichtete, wurden 13 Personen festgenommen. Darunter war auch der Vorsitzende des Vereins Fukara-Der, der für seine Nähe zu HTS bekannt ist. Die Operation soll sich gegen dschihadistische Medienorgane in der Türkei gerichtet haben. Als sich im Laufe des Tages die Kritik häufte, dass die Türkei mit diesen Festnahmen lediglich Russland zufriedenstelle wolle, verschwand die entsprechende Meldung plötzlich von der Interseite von AA.

Reibungen zwischen Ankara und Moskau in Sachen Ukraine

Dass die Beziehungen zwischen Russland und der Türkei nicht so harmonisch und reibungslos laufen, wie gerne suggeriert wird, beweist das Thema Ukraine. Denn die Türkei wünscht sich im Konflikt zwischen Kiew und Moskau Mitspracherecht, insbesondere in der Krim-Angelegenheit, auf welche die AKP wegen des vermeintlich osmanischen Erbes ebenfalls Ansprüche erhebt.

Problematisch für Russland ist der geplante Verkauf der in der Türkei produzierten unbemannten Drohnen an die Ukraine. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko kündigte erst kürzlich an, zwölf Drohnen des Typs Bayraktar TB2 von der Türkei erwerben zu wollen. Die russische Außenministeriumssprecherin Zaharova schickte bereits - verpackt in netten Worten - zu dieser Angelegenheit eine Warnung an die Türkei.

Regimekräfte mobilisieren, Israel ist in Angriffsposition, Iran bleibt außen vor

Aufgrund der militärischen Entwicklungen in Idlib hat das syrische Regime bereits damit begonnen, Soldaten zusammenzuziehen. Im Süden Idlibs werden derzeit die syrischen Soldaten mobilisiert. Interessanterweise beobachtet der Iran das Geschehen momentan teilnahmslos.

Der westliche Block hat kein Interesse daran, dass der Iran über das syrische Regime weiter an Einfluss gewinnt. Insbesondere der Zugang des Irans über seine Verbündeten bis zum Mittlermeer ist dem Westen ein Dorn im Auge. Es scheint, dass Israel vom Westen mit der Aufgabe betraut wurde, hiergegen vorzugehen. Am vergangenen Freitag bombardierte Israel in der Nähe von Damaskus erneut Stellungen des Irans und der Hisbollah.

Russland hingegen schweigt seit geraumer Zeit gegenüber den israelischen Angriffen auf iranische Einheiten in Syrien. Auch beim Idlib-Abkommen zwischen Moskau und Ankara ist der Iran außenvorgelassen worden. Das letzte Treffen zwischen Putin, Erdogan und Rohani ereignete sich am 7. September 2018 in Teheran. Seitdem wurde der Iran aus den Gesprächen ausgeschlossen. Wohlmöglich stellt dies ein Zugeständnis Russlands gegenüber dem westlichen Block über die Frage der Zukunft Syriens dar.

HTS-Vormarsch als Konstruktion der Golfstaaten?

Einige Beobachter werten den plötzlichen Vormarsch der HTS in Idlib als einen Schlag gegen die Türkei, welcher von Saudi-Arabien und Ägypten mit Billigung der USA ausging. Denn die klaren Verlierer dieses Machtwechsels in der Provinz Idlib sind die von der Türkei unterstützten islamistischen Gruppen der Nationalen Befreiungsfront. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch, dass ein führendes Mitglied der HTS kein Interesse an einer türkischen Operation gegen die Kurden zeigte. Dies sei keine Angelegenheit der Muslime.

Fazit: Idlib-Abkommen gescheitert

Wir können vor dem Hintergrund der geschilderten Entwicklungen festhalten, dass das Idlib-Abkommen mit der Machtübernahme der HTS in der Provinz als gescheitert betrachtet werden kann. Bei keinem der vereinbarten Punkte, einschließlich der Errichtung einer entmilitarisierten Pufferzone, konnte Ankara der ihr übertragenen Verantwortung gerecht werden.

Nach dem Besuch der türkischen Delegation in Moskau am Ende des vergangenen Jahres und dem Abweisen des US-amerikanischen Sicherheitsberaters Bolton in Ankara in der vergangenen Woche soll es demnächst zu einem Treffen zwischen Erdoğan und Putin kommen. Das Datum des Treffens steht noch nicht fest, doch inhaltlich dürfte es nach den jüngsten Entwicklungen interessant werden.