UNO: Türkei könnte für Kriegsverbrechen in Rojava belangt werden

Die Türkei könnte nach Auffassung der UNO für Kriegsverbrechen in Nordsyrien strafrechtlich verantwortlich gemacht werden. Ein Bericht der UN-Ermittlungskommission zu Syrien verweist auf Verbrechen von mit der Türkei verbündeten Dschihadistenmilizen.

Die Türkei könnte nach Auffassung der UNO für Kriegsverbrechen gegen Kurdinnen und Kurden in Nordsyrien im vergangenen Jahr „strafrechtlich verantwortlich” gemacht werden. Wie es in einem am Montag veröffentlichten Bericht der UN-Ermittlungskommission zu Syrien heißt, könne Ankara möglicherweise für schwere Verstöße, die von Angehörigen der verbündeten „Syrischen Nationalarmee” (SNA) begangen wurden, belangt werden.

Der Bericht bezieht sich auf den Zeitraum von Juli 2019 bis zum 10. Januar dieses Jahres und stützt sich unter anderem auf Vorwürfe vertriebener kurdischer Familien und anderer Zivilisten. Diese werfen den von der Türkei unterstützten syrischen Milizen Hinrichtungen, die Beschlagnahmung von Häusern und Plünderungen vor. Insgesamt hat die Kommission Interviews mit 233 Betroffenen geführt. Die Ermittlungsgruppe sammelte, überprüfte und analysierte zudem Satellitenbilder, Fotos, Videos und medizinische Aufzeichnungen und griff auf Datenmaterial von Regierungen, NGOs sowie den Vereinten Nationen zurück.

Hinrichtung von Hevrîn Xelef

Der Bericht bezieht sich unter anderem auf den Fall der kurdischen Politikerin und Generalsekretärin der Zukunftspartei Syriens (Hizbul Suri Mustakbel), Hevrîn Xelef (auch bekannt als Havrin Khalaf oder Xalaf), die am 12. Oktober gemeinsam mit ihrem Fahrer nahe Qamişlo ermordet worden war. Mitglieder des sogenannten „Bataillon 123” der protürkischen Dschihadistenmiliz „Ahrar al-Sharqiya“, einer unter dem Dach der SNA an der Invasion in Nordsyrien beteiligten Dschihadistenmiliz, hatten Xelef aus ihrem Wagen gezerrt und ihren Körper verstümmelt, bevor sie sie hinrichteten. Laut Obduktionsbericht wies ihre Leiche zahlreiche Verletzungen auf, darunter viele Schusswunden, Brüche an Beinen, Gesicht und Schädel. Ihre Kopfhaut war teilweise abgelöst, weil man sie an den Haaren gezogen hatte.

Türkischer Luftangriff auf zivilen Konvoi

Sollten Mitglieder bewaffneter Gruppen unter dem Kommando und der Kontrolle türkischer Truppen gehandelt haben, seien die zuständigen Kommandeure strafrechtlich verantwortlich, warnte die UN-Kommission. Haftbar könnten auch diejenigen sein, die es versäumt hätten, Maßnahmen zu ergreifen, um solche Verbrechen zu verhindern. Die Ermittler verweisen in ihrem Bericht auch auf den Luftangriff (Achtung: verstörende Bilder) am 13. Oktober nahe Serêkaniyê (Ras al-Ain) hin, bei dem elf Menschen getötet und 74 weitere verletzt worden waren. Bei der Bombardierung eines zivilen Konvois, der mit Familien und Journalisten aus der Cizîrê-Region unterwegs Richtung Serêkaniyê war, starben auch zwei Medienschaffende: Seed Ehmed, ein Korrespondent der in Rojava ansässigen Nachrichtenagentur ANHA (Hawarnews), war auf der Stelle tot. Sein Kollege Mihemed Hisen Reşo vom ezidischen Fernsehsender Çira TV, der auch für den kurdischen Fernsehsender Stêrk TV arbeitete, erlag einen Tag später seinen Verletzungen.

Massenvertreibungen, Plünderungen, Entführungen

Die Ermittlungskommission der UN hält in ihrem Bericht fest, dass der „Vormarsch der türkischen Streitkräfte und der Syrischen Nationalarmee” dem plötzlichen Abzug der US-Truppen folgte und zu einer Massenvertreibung der angestammten Bevölkerung führte. „Feindseligkeiten lösten zwischen dem 10. und 11. Oktober innerhalb von 24 Stunden die Vertreibung von mehr als 100.000 Menschen aus, ebenso wie Plünderungen und die Aneignung von Eigentum.” Es seien Fälle von Festnahmen, Tötungen, Gewalt und Entführungen sowie weit verbreitete Plünderungen und Aneignungen von Häusern der Zivilbevölkerung durch eine Vielzahl bewaffneter Gruppen, die „unter dem Dach der Syrischen Nationalarmee operieren”, in einem „konsistenten, erkennbaren Muster” dokumentiert worden. Dieses Muster habe die Kommission zuvor bereits in Efrîn nachgewiesen. Der Bericht erwähnt zahlreiche Entführungsfälle, zu denen es aus einer rein finanziellen Motivation heraus gekommen sei, und hält fest, dass die gemeldeten Vorfälle in erster Linie kurdische Bewohner*innen betrafen. „Während sie ihrer Freiheit beraubt wurden, waren sie unter schlechten hygienischen Bedingungen Folter und Misshandlung ausgesetzt, und sie hatten kaum Zugang zu Nahrung.”

Kriegsverbrechen durch bewaffnete Gruppen der SNA

Weiter heißt es: „Durch Raub und Vermögensaneignung begingen bewaffnete Gruppen unter dem Dach der Syrischen Nationalarmee das Kriegsverbrechen der Plünderung und verletzten ferner das Besitzrecht. Darüber hinaus gibt es nach Ansicht der Kommission berechtigten Grund zu der Annahme, dass Mitglieder bewaffneter Gruppen unter Schirmherrschaft der Syrischen Nationalarmee die Kriegsverbrechen der Geiselnahme, der grausamen Behandlung von Zivilisten und Gefangenen, ihrer Misshandlung und der Folter begangen haben.”

Die Ermittler verweisen auch auf das Sicherheitsrisiko für die Zivilbevölkerung außerhalb der türkischen Besatzungszone in Nordsyrien. Konkret benennt der Bericht die Lage in Tel Rifat im Kanton Şehba, einer wüstenähnlichen Region östlich von Efrîn: „Tel Rifat wird regelmäßig beschossen. Bei einem Beschuss (Achtung, verstörende Bilder), der vermutlich aus Jariz in der Nähe der Stadt Azaz erfolgte, wurden am frühen Nachmittag des 2. Dezember zehn Zivilisten getötet, darunter zwei Kinder, und zwölf weitere wurden verletzt. Die betroffenen Zivilisten waren zuvor aus der Region Afrin vertrieben worden.”

Frauen besonders benachteiligt

Weiter führt die Kommission aus, dass Frauen, insbesondere diejenigen, die bestimmten religiösen und ethnischen Gemeinschaften angehören, durch den Konflikt nachteilig beeinflusst wurden. „Die kurdische Selbstverwaltung hat Anstrengungen unternommen, um die Rechte der Frauen und ihre Rolle in Entscheidungsprozessen zu fördern. Jede Verwaltungsinstitution wird von einer Frau mitgeführt, und neben den rein weiblichen Räten stärkt eine Frauenquote von 40 Prozent die Vertretung und Beteiligung von Frauen in Wirtschaftsinitiativen und Organisationen der Zivilgesellschaft.”

Frauen waren im öffentlichen Raum die Vorreiterinnen der Entwicklungen und genossen viele Rechte. Diese Kultur der Toleranz gibt es in Efrîn heute nicht mehr. Die Besatzungstruppen drängen darauf, ihre Auslegung der Scharia im öffentlichen Leben durchzusetzen. Frauen dürfen nur noch in Begleitung eines männlichen Angehörigen das Haus verlassen und müssen sich verschleiern.

Fähigkeiten von Frauen werden untergraben

„Die jüngsten geschlechtsspezifischen Verletzungen, die von bewaffneten Gruppen mit extremistischen Ideologien an kurdischen Frauen begangen wurden, haben jedoch den Versuch gezeigt, die Bemühungen der Selbstverwaltung zu zerschlagen. Indem sie fast jeden Aspekt des Lebens kurdischer Frauen in Afrin und - nach und nach - in den von der „Operation Friedensquelle“ betroffenen Gebieten ins Visier nahmen, erzeugten bewaffnete Gruppen eine spürbare Angst vor Gewalt und Nötigung unter dem weiblichen Teil der kurdischen Bevölkerung. Dies führte dazu, dass die Fähigkeit der Frauen, sich sinnvoll an ihrer Gemeinschaft zu beteiligen und zu ihr beizutragen, untergraben wurde. Um nicht belästigt zu werden, beschlossen die Frauen, zu Hause zu bleiben, ihre Arbeit aufzugeben oder ein Kopftuch zu tragen, wenn sie sich ohne einen männlichen Verwandten nach draußen begeben. Eine Befragte beschrieb, dass sie an einem Kontrollpunkt in Afrin von Mitgliedern bewaffneter Gruppen sexuell belästigt und als Kafir bezeichnet wurde, weil sie kein Kopftuch trug. Ezidische Frauen in Afrin beschrieben ähnliche Ängste.”

UNO: Türkei bestreitet Beteiligung

Die UN-Ermittlungskommission hält fest, dass die Türkei die Beteiligung an den dokumentierten Vorfällen entweder bestritten hat oder angab, nicht im Besitz von Informationen zu sein. Die Kommission setzt ihre Untersuchungen zu den recherchierten Fällen weiter fort und fordert von den türkischen Behörden, eigene Untersuchungen einzuleiten und die Ergebnisse zu veröffentlichen.

UN-Ermittlungskommission zu Syrien

Die UN-Ermittlungskommission war 2011 kurz nach Beginn des syrischen Bürgerkriegs ins Leben gerufen worden und hat seither verschiedenen Seiten in dem Konflikt Kriegsverbrechen und in einigen Fällen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen.