SNA-Dschihadisten Gegenstand der Geheimhaltung

Die Linksfraktion stellte eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung zur Situation von Binnenflüchtlingen in Nordsyrien. Die Bundesregierung antwortete ausweichend und stufte die Antworten auf kritische Fragen als „Verschlusssachen“ ein.

Seit dem 9. Oktober 2019 greifen die türkische Armee und die mit ihr verbündete „Syrische Nationalarmee“ (SNA) Nordsyrien an. Nach schweren Kämpfen besetzten die Invasionstruppen einen über 120 Kilometer breiten und 30 Kilometer tiefen Streifen syrischen Territoriums zwischen den Grenzstädten Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad), einschließlich beider Städte. Die türkische Armee rückte in Nordsyrien unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung und dem erklärten Ziel ein, dort ein Siedlungsgebiet für mindestens eine Million in der Türkei lebender syrischer Schutzsuchender zu schaffen.

Schutzsuchende sind in Nordsyrien nicht nur von mangelnder interner Sicherheit bedroht, sie sind Ernährungsmängeln ausgesetzt und leben unter katastrophalen hygienischen Bedingungen, ohne ausreichenden Wetterschutz. Zudem werden immer wieder Flüchtlingslager beziehungsweise Orte, an denen Binnenvertriebene leben, von der türkischen Armee und ihren Verbündeten angegriffen. Erst am 2. Dezember 2019 schlugen Artilleriegranaten in der Stadt Tel Rifat ein und töteten zehn kurdische Binnenflüchtlinge, die vor der türkischen Besetzung von Efrîn geflohen waren. Bei acht der Getöteten handelte es sich um Kinder im Alter zwischen drei und 15 Jahren.

Die innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, Ulla Jelpke, richtete eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung zur Situation der Binnenflüchtlinge in Nordsyrien und zur Umsetzung der Pläne des Erdoğan-Regimes zur demografischen Veränderung in den besetzten Gebieten Nordsyriens. Die Bundesregierung tat sich mit der Beantwortung der kritischen Fragen durchaus schwer. Statt die Kleine Anfrage wie vorgeschrieben binnen zwei Wochen zu beantworten, brauchte sie ganze zwei Monate dazu. Dies schlug sich allerdings nicht in sorgfältig recherchierten Antworten nieder, sondern in Verschleierung, geheuchelter Unkenntnis und Geheimhaltung der meisten kritischen Punkte.

SNA-Dschihadisten Gegenstand der Geheimhaltung

Insbesondere Fragen nach der Zusammensetzung der SNA-Söldnertruppen und ihrem Agieren in Nordsyrien stufte die Bundesregierung rigoros ein. Offenbar will Deutschland nicht, dass ans Licht kommt, mit welchen Gruppen die dschihadistischen Milizen agieren. Wie wir bereits berichteten, setzen sich die SNA-Milizen aus für schwerste Menschenrechtsverletzungen verantwortlichen Söldnertruppen zusammen, die sich insbesondere aus den Überresten von al-Qaida und dem „Islamischen Staat“ (IS) rekrutieren. Fragen bezüglich der durch gezielte türkische Bombardierungen aus QSD-Haft befreiten IS-Dschihadisten werden folgerichtig ebenfalls zum Gegenstand der Geheimhaltung.

Jelpke: Endlich Konsequenzen statt hohler Phrasen

Zu einigen Ereignissen, wie dem Massaker von Tel Rifat, der Ermordung von NGO-Mitarbeitern durch SNA-Söldner und anderen Verbrechen erklärt die Bundesregierung,  man habe „die türkische Regierung wiederholt und mit Nachdruck dazu aufgerufen, ihre Sicherheitsinteressen mit politischen und nicht mit militärischen Mitteln zu verfolgen.“  Die Abgeordnete Ulla Jelpke reagiert empört auf die Antwort und erklärt gegenüber ANF: „Statt hohle Phrasen zu dreschen und zahnlose Drohungen auszustoßen, müssen endlich Konsequenzen gezogen werden. Was hat es denn mit ‚Nachdruck‘ zu tun, wenn die Bundesregierung das Erdogan-Regime mit Millionen und Abermillionen Euro Schutzgeld im Sattel hält?“

„Mutmaßliche Völkerrechtsverletzungen durch von der Türkei unterstützte Milizen“

Zu Kriegsverbrechen wie der Ermordung eines Mitarbeiters der Hilfsorganisation „Free Burma Rangers“ durch SNA-Söldner erklärt die Bundesregierung, sie habe „Kenntnis zu mutmaßlichen Völkerrechtsverletzungen durch arabische, von der Türkei unterstützte Milizen“. Weiter heißt es dazu: „Sollten sich diese Vorwürfe bewahrheiten, verurteilt die Bundesregierung diese aufs Schärfste.“

Ulla Jelpke kommentiert: „Es ist einfach nur beschämend: die syrisch-kurdische Politikerin Hevrin Xelef wurde von Söldnern der Türkei nachweislich zu Tode gefoltert, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen wurden umgebracht. Doch die Bundesregierung bringt gerade mal eine verbale Verurteilung im Konjunktiv zu Stande. Mit dieser Appeasement-Politik gegenüber dem türkischen Diktator trägt die Bundesregierung zur Straflosigkeit von Kriegsverbrechen bis hin zu Angriffskriegen bei.“

Situation in den Flüchtlingslagern ist Verschlusssache

Die Situation in den Flüchtlingslagern in Nordsyrien ist ebenfalls Verschlusssache. Die Bundesregierung gibt aber zumindest bekannt, dass ein Todesfall im Flüchtlings- und Internierungslager Hol (al-Hawl) in Nordsyrien dem IS zuzurechnen sei. Weiterhin berichtet die Bundesregierung von Übergriffen auf „kurdische Sicherheitskräfte“ durch den IS in den Camps in Nordsyrien.

Massiv niedrigere Zahlen von Binnenflüchtlingen angegeben

Gefragt nach den Zahlen der Binnenflüchtlinge, verweist die Bundesregierung auf Zahlen von internationalen Hilfsorganisationen, wonach sich in Lagern für Binnenvertriebene und Flüchtlinge in Nordostsyrien 112.000 Personen aufhielten. Davon seien 7.300 aus Serêkaniyê und Til Temir sowie 1.000 Personen aus Girê Spî geflohen. In den von der Türkei besetzten Städten Efrîn, Azaz, al-Bab und Dscharablus hielten sich 170.000 Personen in Flüchtlingslagern auf. Die Vereinten Nationen berichten von 200.000 Vertriebenen, von den 129.000 zurückgekehrt seien. Rund 70.000 Menschen seien weiter vertrieben. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Da internationale Hilfsorganisationen in den meisten der Flüchtlingscamps nicht präsent sind, sollte die Zahl der Binnenflüchtlinge eher bei 300.000 liegen, wie es die Selbstverwaltung der Region angibt. Auch die Rückkehrquote bleibt zweifelhaft, da kein Zugang zu den besetzten Gebieten besteht. Personen, die immer wieder versuchen zurückzukehren, werden erneut vertrieben. Ulla Jelpke erklärt: „Das Erdogan-Regime hat mit seiner Invasion Hunderttausende vertrieben. Das ist kein Kollateralschaden, sondern ein schweres Kriegsverbrechen. Erdogan gehört auf die Anklagebank, nicht an den Verhandlungstisch.“

Nur Organisationen des Erdoğan-Regimes haben Zugang zu besetzten Gebieten

Die Zahlen der UN sind auch aus dem Grund mit Vorsicht zu betrachten, da die Türkei nach Angaben der Bundesregierung die von SNA-Dschihadisten und der türkischen Armee besetzte Zone zwischen Serêkaniyê und Girê Spî vollständig blockiert. Nicht einmal die UN haben Zugang. Allein staatliche und parastaatliche Hilfsorganisationen wie AFAD und der jüngst aufgrund von Korruption und Islamistenfinanzierung ins Gerede gekommene türkische Rote Halbmond dürfen die Region betreten.

 „Es ist ein Unding, dass diese Besatzungszone eine menschenrechtliche Blackbox für die UN ist. Doch aus den Berichten von Flüchtlingen wissen wir, wie die protürkischen SNA-Söldner über Dörfer herfallen, plündern, entführen, erpressen, morden und vergewaltigen. Die internationale Gemeinschaft will das offenbar nicht sehen. Dabei muss alles getan werden, damit Erdogan und seine Terroristen aus Nordsyrien verschwinden“, fordert Jelpke.

„Freiwillige Ausreisen“

Unter dem Titel „Freiwillige Ausreisen“ schiebt die türkische Regierung systematisch, gewaltsam Schutzsuchende in Kriegsgebiete ab oder missbraucht sie als Siedler in Nordsyrien. Gefragt nach den Zahlen der „freiwillig Ausgereisten“ bezieht sich die Bundesregierung auf Angaben des UNHCR das schreibt, dass seit 2016 84.725 Flüchtlinge „freiwillig“ aus der Türkei nach Syrien „zurückgekehrt“ sind. Im Jahr 2019 belief sich die Zahl auf 34.304; mehr als 40 Prozent dieser „freiwilligen Ausreisen“ betrafen damit das Jahr 2019.

Jelpke kommentiert diese Zahlen: „34.304 Menschen sind allein vergangenes Jahr als ‚freiwillig‘ aus der Türkei nach Syrien ausgereist gemeldet worden. Darüber, dass diese Ausreisen tatsächlich durch die türkischen Behörden erzwungen werden, will die Bundesregierung keine ‚eigenen‘ Erkenntnisse haben. Dabei pfeifen es doch die Spatzen von den Dächern: Schutzsuchende in der Türkei werden immer wieder durch Gewalt, Drohungen oder Täuschungen gezwungen die Freiwilligkeit ihrer Ausreise per Unterschrift zu bestätigen, um dann postwendend ins Kriegsgebiet abgeschoben zu werden.“