Türkei: Freispruch für die Samstagsmütter

Nach einem jahrelangen Prozess sind 44 Mitglieder und Unterstützende der Samstagsmütter vom Vorwurf, gegen das Demonstrationsgesetz verstoßen zu haben, freigesprochen worden. Bei einer Verurteilung hätte ihnen bis zu drei Jahre Haft gedroht.

Angeklagt wegen aufgelöster Mahnwache

Nach einem jahrelangen Prozess sind über vierzig Mitglieder und Unterstützende der „Samstagsmütter“ am Freitag in Istanbul vom Vorwurf eines Verstoßes gegen das türkische Versammlungs- und Demonstrationsgesetz Nr. 2911 freigesprochen worden. Da zuletzt selbst die Staatsanwaltschaft auf Freispruch plädierte, war das Urteil keine Überraschung mehr. Man könne keine Beweise für eine Straftat erkennen, hieß es zur Begründung. Im vollbesetzten Saal wog die Wut schwerer als Erleichterung. „Die Erkenntnis kommt um Jahre zu spät“, kritisierte die Rechtsanwältin Gülseren Yoleri.

Wasserwerfer, Gummigeschosse und Tränengas gegen Samstagsmütter

Der Freispruch für die Angeklagten in dem vor der 21. Strafkammer des Landgerichts Istanbul verhandelten Prozess ist der Schlusspunkt unter einer Auseinandersetzung zwischen der Justiz der Türkei und Angehörigen von Menschen, die in Obhut des Staates verschwunden gelassen wurden, die am 25. August 2018 eskalierte. Mit Wasserwerfern, Gummigeschossen und Tränengas hatte die Polizei an jenem Tag eine Demonstration der Samstagsmütter aufgelöst. Die Frauen und Unterstützende hatten sich zum 700. Mal zu ihrer wöchentlichen Mahnwache vor dem Galatasaray-Gymnasium versammelt, um Aufklärung über das Schicksal ihrer in den 1990er Jahren in Haft verschwundenen Familienmitglieder zu fordern.

Rechtswidriges Verbot durch Innenministerium

Der damalige Innenminister Süleyman Soylu hatte die Kundgebung im Vorfeld wegen vermeintlichen Verbindungen der Samstagsmütter zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verbieten lassen. Das 700. Treffen der Initiative sei von Gruppierungen beworben worden, denen er eine Nähe zur PKK unterstellte. „Hätten wir etwa die Augen davor verschließen sollen, wenn Mutterschaft von einer Terrororganisation ausgenutzt wird?“, begründete Soylu später den brutalen Übergriff auf die Samstagsmütter mit etlichen Verletzten und verbot auch alle künftigen Aktionen. Er warf den Frauen vor, sich von verbotenen Organisationen instrumentalisieren zu lassen. Mit dem „Polizeieinsatz“ sei der „Ausbeutung und dem Betrug“ ein Ende gesetzt worden.

Dutzende Verletzte, fast 50 Festnahmen

47 Personen wurden damals vorübergehend festgenommen, neben Angehörigen von Verschwundenen auch etliche prominente Menschenrechtler:innen. Die 2020 angenommene und seit März 2021 verhandelte Anklage richtete sich zuletzt gegen 44 von ihnen, darunter die Rechtsanwältin Leman Yurtsever sowie die Aktivistinnen Maside Ocak und Jiyan Tosun, deren Väter oder Brüder von Todesschwadronen des türkischen Staates ermordet wurden. Letztere ließ heute über ihre Verteidigung ausrichten, dass der Prozess ein Versuch sei, den legitimen Kampf der Samstagsmütter zu kriminalisieren. „Die Justiz hat unsere jahrelangen Forderungen ignoriert. Wir haben keine Rechenschaft darüber abzulegen, dass wir nach unseren vermissten Angehörigen suchen. Es ist das türkische Justizsystem, das uns eine Erklärung schuldet“, ergänzte sie.

Rachejustiz gegen Angehörige von staatlich ermordeten Menschen

Gülseren Yoleri, die vor Gericht Maside Ocak vertrat, erklärte, die lange Prozessdauer beruhte auf dem Umstand, dass eine „Rachejustiz“ als „verlängerter Arm“ gewisser Regierungskreise fungiert habe. Das sei mitunter daran deutlich, dass die Anklage gegen die Samstagsmütter erst über zwei Jahre nach der 700. Mahnwache erhoben wurde und selbst dann nicht fallengelassen wurde, nachdem der türkische Verfassungsgerichtshof Anfang 2023 entschieden hatte, dass Verbotsverfügungen für Zusammenkünfte der Gruppe rechtswidrig seien. „Diese Bewegung ist legitim, und der Verfassungsgerichtshof hat dies bestätigt. Dieser Prozess hätte gar nicht erst stattfinden oder zumindest nach der Entscheidung des obersten Gerichts dieses Landes eingestellt werden müssen“, erklärte Yoleri.

Einen Antrag der Staatsanwaltschaft, ein Ermittlungsverfahren gegen die an dem Übergriff auf die 700. Mahnwache der Samstagsmütter und ihres Unterstützerkreises beteiligten Polizist:innen einzuleiten, lehnte das Gericht ab.

Emine Ocak wenige Tage nach dem Angriff auf die 700. Mahnwache. Mit Panzerwesten ausstaffierte Polizistinnen hatten das Gesicht der Samstagsmütter wie eine Schwerverbrecherin vom Galatasaray-Platz heruntergezerrt.


Die am längsten andauernde Aktion zivilen Ungehorsams in der Türkei

Die am längsten andauernde Aktion zivilen Ungehorsams in der Türkei begann am 27. Mai 1995 mit der Sitzaktion der Familie und der Rechtsvertreter von Hasan Ocak auf dem Galatasaray-Platz. Der Familie von Hasan Ocak schloss sich dann die Familie von Rıdvan Karakoç an, dessen Leichnam die Familie erhielt, nachdem er für einige Zeit verschwunden gewesen und zu Tode gefoltert worden war. Die beim ersten Zusammentreffen dreißig Menschen zählende Gruppe wuchs mit jeder folgenden Woche. Später sollten sich Tausende am Galatasaray-Platz versammeln. Die Presse gab der Gruppe, die jeden Samstag auf dem Platz eine Sitzaktion durchführte, den Namen „Samstagsmütter“. Die Gruppe nahm den Namen an und begann sich selbst Samstagsmütter zu nennen.

Für ein kollektives historisches Gedächtnis

Wie die „Mütter des Platzes der Mairevolution“ in Argentinien haben auch die Samstagsmütter mehrere Forderungen: Sie wollen wissen, was den Opfern widerfahren ist, und sie wollen ihre Angehörigen zurück – tot oder lebendig. Mit dieser Forderung wird versucht, diese Menschenrechtsverletzungen des Staates im kollektiven Gedächtnis lebendig zu halten. Die zweite Forderung betrifft die Feststellung der Täter und die strafrechtliche Ahndung des Verbrechens.