Seit bald 30 Jahren fordern die „Samstagsmütter“ in Istanbul Aufklärung über ihre in der Türkei verschwundenen Angehörigen. Die am längsten andauernde Aktion zivilen Ungehorsams in der Türkei begann am 27. Mai 1995 mit der Sitzaktion der Familie und der Rechtsvertreter des durch Folter ermordeten Lehrers Hasan Ocak auf dem Galatasaray-Platz. Der Familie von Hasan Ocak schloss sich dann die Familie von Rıdvan Karakoç an. Sein Schicksal war auch das Thema der mittlerweile 1038. Mahnwache der Initiative. Vorgestellt wurde der Fall von Gülseren Yoleri, der Vorsitzenden der Istanbuler Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD.
Rıdvan Karakoç war Kurde und stammte aus Agirî (tr. Ağrı). Er wurde im Februar 1995 in Istanbul festgenommen, gefoltert, ermordet und anonym verscharrt. Dass er dem Verschwindenlassen zum Opfer gefallen war, kam jedoch nur durch einen Zufall ans Licht: die Familie Ocak hielt sich gerade bei der Staatsanwaltschaft auf, als sie ein Foto einer erstellten Leiche sah. Es war der Körper von Rıdvan Karakoç, der zum Zeitpunkt seines Verschwindens zur Fahndung ausgeschrieben war. Seine sterblichen Überreste waren von Dorfbewohnern in einem Waldgebiet im Istanbuler Stadtteil Beykoz entdeckt worden.
Mit Strick um den Hals erdrosselt
Drei Wochen lang wurde die Leiche Karakoçs in der Gerichtsmedizin aufbewahrt, bevor sie später auf einem Friedhof für Unbekannte begraben wurde. Es dauerte Monate, bis die Familie erwirken konnte, dass das Grab geöffnet wird. Die Autopsie ergab, dass Rıdvan Karakoç irgendwann zwischen dem 15. Februar und 1. März 1995 durch einen Strick um den Hals erdrosselt wurde. Sein Körper wies zudem an etlichen Stellen Verbrennungen auf – dasselbe Schicksal hatte auch Hasan Ocak erleiden müssen.
Rıdvan Karakoç hatte als Jugendlicher seinen Geburtsort Dûtax verlassen und sich mit seiner Familie in Istanbul niedergelassen. Dort engagierte er sich bei den kurdischen Parteien HEP und DEP, zudem gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des Kulturzentrums Mesopotamien (Navenda Çanda Mezopotamyayê). Kurz vor seinem Verschwindenlassen hatte ihn jemand diffamiert, vermutlich um sich selbst vor Folter zu schützen. Er tauchte unter, hielt den Kontakt zu seiner Familie und seiner Rechtsanwältin Eren Keskin einige Wochen lang telefonisch aufrecht. Den letzten Anruf von ihm erhielt die Juristin, die bei der Mahnwache heute ebenfalls anwesend war, am 15. Februar 1995.
Die Ko-Vorsitzende des IHD, Eren Keskin (m.) war bereits 1995 die Rechtsanwältin von Rıdvan Karakoç
„An diesem Tag zog die Polizei auch ihre Observationsgruppe vor dem Wohnhaus der Familie Karakoç ab, die ständigen Razzien endeten ebenfalls abrupt“, erklärte Yoleri. Damit begann die Suche der Angehörigen nach dem damals 34-Jährigen. Die Polizei leugnete seine Festnahme und Justizbehörden zeigten kein Interesse daran, das Schicksal Karakoçs aufzuklären. „Nach 110 Tagen der intensiven Suche und etlichen Anfragen bei allen relevanten Behörden wurde bekannt, dass Rıdvan in einem anonymen Grab verscharrt wurde. Dies geschah, obwohl seine Identität kein Geheimnis war. Man seine lediglich seine Fingerabdrücke überprüfen müssen, doch man wusste schließlich, wer er war“, so Yoleri.
Forderung nach Bestrafung der Täter
Weiter erklärte die Aktivistin: „Seit drei Jahrzehnten Jahren kämpfen die Samstagsmütter für Gerechtigkeit und dafür, dass die Täter des gewaltsamen Verschwindenlassens bestraft werden. Nur durch eine Aufarbeitung der Vergangenheit und der Bestrafung der Täter wird der Straflosigkeit ein Ende gesetzt und die tiefen Wunden, die durch diese staatliche Praxis in die Gesellschaft gerissen wurden, können heilen. Wir werden nicht aufhören, diese Forderung immer wieder zu erheben.“